Mario Mrazek (Mitte) leitet den Popchor Wien. Der Chor probt Weihnachtslieder von Katy Perry und Ariana Grande.
Foto: Regine Hendrich

Mario Mrazek ist noch nicht ganz zufrieden: Die Hauptstimme ist zu leise. "Ihr seid die größte Gruppe und wirkt stimmlich gerade wie die kleinste." Der Sänger und Gesangspädagoge leitet den Popchor Wien. Bereits zum fünften Mal singt der Laienchor nun den Refrain von "Cozy Little Christmas" von Katy Perry. "Ihr müsst eure Stimme solistisch denken, ihr seid die Katy Perrys. Auch wenn ihr noch unsicher seid, singt laut. Fake it till you make it", baut Mrazek die Sängerinnen und Sänger auf.

67 Menschen sind an einem Mittwochabend im November zur Probe des 95-köpfigen Popchors Wien gekommen. Viele haben sich krankgemeldet. Trotzdem ist der Theatersaal im Wiener Musikquartier, wo der Chor eingemietet ist, gut gefüllt. Die Sängerinnen und Sänger stehen dicht vor der Bühne. Auf dieser singt Mrazek ins Mikrofon, tänzelt und "fuchtelt", wie er sein Dirigieren nennt. Links von ihm beatboxt Raphael Schall, rechts von ihm begleitet Dominik Strutzenberger an der E-Gitarre. "Wir brauchen diesen Wumms, diesen Groove für Popmusik", sagt der Chorleiter. A cappella zu singen, wie viele Chöre, kommt für ihn nicht infrage, seit den Anfängen des Popchors hat er die Musiker dabei.

Aktuelle Weihnachtslieder

Auch beim Repertoire hebt man sich ab: Dua Lipa, Olivia Rodrigo oder Harry Styles. "Abba oder Beatles schätze ich sehr, aber im Chor sind die schon ausgelutscht." Genauso tauchen weder Wham oder Mariah Carey noch Gospelsongs oder klassische Weihnachtslieder im Weihnachtsprogramm auf. "Ich mag die Musik, aber ich stehe nicht hinter den religiösen Texten", erklärt der offen schwule Chorleiter. Neben Katy Perry stehen deshalb Ariana Grande, Kelly Clarkson und Billie Eilish auf der Setlist der Weihnachtsauftritte im Palais Liechtenstein und am Spittelberg in knapp einer Woche. An einem der Tage plant der Popchor auch, an öffentlichen Plätzen in Wien sein Ständchen zu singen – hoffend, dass die Polizei den Flashmob nicht auflöst.

Dua Lipa, Olivia Rodrigo oder Harry Styles sind im Repertoire des Popchor Wien.
Popchor Wien

Österreich hat eine lange Tradition an klassischen Chören, die oft in Kirchen auftreten oder von einem Orchester begleitet werden. Chöre, die Beyoncé statt Bach singen, sind da in der Unterzahl. Doch es werden mehr: Der Schmusechor, der Groovechor, der Femchor oder der Technochor sind Beispiele. Seit vier Jahren probt der Popchor Wien, der aus dem Chor der Stagelab Academy, die Mrazek mitgegründet hat, entstanden ist. Vor allem Frauen sind dabei, sechs Männer sind an diesem Abend gekommen, der Altersschnitt liegt zwischen 25 und 45 Jahren. Vor allem die Popsongs und das lockere Setting sprächen Junge an, vermutet der Leiter. Auch Helene Griesslehner, die den Groovechor leitet, beobachtet mehr junge Nachfrage: "Das Repertoire ist entscheidend und dass der Chor offener ist. Die Leute sollen sich wohlfühlen, Singen ist emotional."

Spielerisch und locker

Zum sechsten Mal singt der Chor den Refrain. Die Jüngeren lesen den Text auf dem Smartphone, Ältere haben ihn ausgedruckt in Schnellheftern. Ein Herr mit grauen Haaren und Lesebrille liest auf dem Handy einer jungen Sängerin die Lyrics. "So klein erkennst du was?", fragt er. Manche schunkeln und wippen, andere tanzen. Einige halten sich beim Singen den Bauch, bewegen die Hände zum Takt. "Yes, super", sagt Mrazek: "Vom Sound her ist es, was ich will, aber ich will noch mehr."

Die Liedtexte werden vom Handy abgelesen. Die Älteren haben sie ausgedruckt in Schnellheftern.
Foto: Regine Hendrich

Eine Stunde probt der Chor das Lied. Inzwischen riecht es mehr wie in einem Turnsaal als in einem Proberaum. Mrazek klatscht den Rhythmus vor oder spielt die Stimmlage auf dem Flügel an. Er probt verpasste Einsätze, bis sie sitzen. Und er bespricht, wie man den Sinn des Lieds stimmlich transportieren kann. Seine Antwort: mit "Stiff mit Twang". Mrazek macht es vor und klingt wie einer von den Bee Gees. "Atmen nicht vergessen", rät er den hohen Sängerinnen.

Mrazek, Strick-Hoodie, Jeans und Sneaker, will kein distanzierter Leiter sein, der allein den Ton angibt. Susanne, die zehn Jahre in einem Gospelchor gesungen hat und neu dabei ist, weiß das zu schätzen: "Er stellt sich nicht in den Vordergrund, ist nicht oberlehrermäßig, sondern bringt uns die Lieder spielerisch bei." Sie ist froh, beim Aufwärmen nicht mehr starr Tonleitern singen zu müssen, oder bei Konzerten den Gospelklassiker "Oh Happy Day".

Keine Noten

Welche Lieder gesungen werden, entscheidet Mrazek nicht allein. Wer will, kann sich im Creative Team engagieren und das Repertoire mitbestimmen, Konzerte oder Videodrehs planen. Wie Lisa (27), die seit zweieinhalb Jahren beim Popchor Wien ist. "Als junger Mensch werde ich schon schief angeschaut, wenn ich sage, dass ich im Chor singe", sagt sie. Doch wenn sie erzähle, was gesungen werde, hätten viele einen "Aha-Moment". Ihr habe auch gefallen, dass sie nicht in einem Casting vorsingen musste. Auch wenn Mrazek seinen Chor möglichst niederschwellig anlegt, sagt er: "Es ist ein Laienchor, keine offene Singgruppe. Ich fordere sie schon. Man soll auch auf die Bühne wollen."

Beim Popchor Wien ist das Alter durchmischt, bei dieser Probe sind viele Junge dabei.
Foto: Regine Hendrich

Der Text und manche Töne von "Underneath the Tree" von Kelly Clarkson sitzen noch nicht. "Das ist ein richtiger Power-Christmas-Song, da bekommen wir eine gute Stimmung zusammen", sagt Mrazek, der das Lied kurz vor der Probe ausgesucht hat. Die Noten liest er vom iPad ab. Notenblätter oder einheitliche Liedmappen gibt es für den Chor nicht. "Nach Noten zu singen ist professioneller und genauer, aber wie in der Schule. So war das in meinem vorigen Chor, hier ist mehr Freude dabei", sagt Andrea. Man könne sich mehr aufs Singen konzentrieren. Oder für Auftritte eine Choreografie einbauen, was auch herausfordernd sei.

Mrazek singt nun die einzelnen Stimmlagen vor. Er erklärt, welche Breite die tiefe Stimme hat, wo die hohe angesiedelt ist und wie die Stimme dazwischen klingt. Vom Wording Sopran, Alt, Tenor oder Bass nimmt er Abstand. Es erzeuge zu viel Druck, dass die Stimme genau so klingen muss, weshalb er die Stimmlagen als Über-, Mittel und Unterstimme bezeichnet. Diese sind nicht fix wie in anderen Chören: Jede Person entscheidet, welche Lage sie singt – und darf wechseln. "Es ist toll, sich auszuprobieren und zu schauen, wo man sich wohlfühlt", sagt Lisa.

Von Ariana bis Billie

"Santa Tell Me" von Ariana Grande hat der Chor bereits voriges Jahr gesungen.
Popchor Wien

Diesen Wechsel kann man bei den nächsten beiden Liedern hören. "Santa Tell Me" von Ariana Grande singt der Popchor dreistimmig, "Ocean Eyes" von Billie Eilish sechsstimmig. Einige stellen sich um, neue Grüppchen bilden sich. Mario Mrazek weist sie an, noch enger zu stehen, um einander besser zu hören. "Santa Tell Me" sitzt. Das Lied hat der Chor im Vorjahr gesungen. Mrazek unterbricht: "Ohne Text bitte. Mal schauen, was wir uns gemerkt haben. Wenn ihr nicht weiterwisst, wisst ihr, was ihr lernen müsst."

Zum Üben stellt er Aufnahmen auf Dropbox, neue Songs werden in der Whatsapp-Gruppe besprochen. Jede Probe filmt er mit und lädt sie für die Abwesenden auf Youtube hoch. Nur heute nicht: Mrazek hat nämlich vergessen, die Aufnahme zu starten. "Oh" raunt es durch den Chor.

Zum Üben werden die Aufnahmen auf Dropbox gestellt, neue Songs werden in der Whatsapp-Gruppe besprochen. Jede Probe wird mitgefilmt und für die Abwesenden auf Youtube hochgeladen.
Foto: Regine Hendrich

Zweimal in der Woche zu singen sei ein guter Ausgleich zum Alltag, findet Andrea, man könne abschalten und lustig sein. "Ich komme müde vom Arbeitstag her und gehe mit viel mehr Energie nach Hause", sagt auch Susanne nach der Probe. (Selina Thaler, 9.12.2022)