Am Donnerstag begann in München der Prozess gegen die Führungsriege des Wirecard-Konzerns.

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München – In München eröffnete am Donnerstag der Vorsitzende Richter Markus Födisch den Wirecard-Strafprozess um den mutmaßlich größten Betrugsfall in Deutschland seit 1945. Die Staatsanwaltschaft wirft dem früheren Wirecard-Vorstandschef, dem Österreicher Markus Braun, und seinen beiden Mitangeklagten vor, eine kriminelle Bande gebildet, die Konzernbilanzen gefälscht und Kreditgeber um 3,1 Milliarden Euro geprellt zu haben. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten Bilanzfälschung, Marktmanipulation, Untreue und gewerbsmäßigen Bandenbetrug vor.

VIDEO: Zum Auftakt seines Prozesses vor dem Landgericht München sitzt der frühere Wirecard-Chef Markus Braun bereits mehrere Jahre in Untersuchungshaft. Das wird wohl auch so bleiben, denn der Prozess könnte sich lange hinziehen. (AFP)
DER STANDARD

Erfundene "Drittpartner"-Umsätze

Über das Tochterunternehmen Cardsystems Middle East in Dubai verbuchte Wirecard laut Anklage erfundene "Drittpartner"-Umsätze in Milliardenhöhe. Diese Drittpartner waren Firmen, die im Wirecard-Auftrag Zahlungen abwickelten. Vor der Pleite im Sommer 2020 hatte das Unternehmen mutmaßliche Scheinbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro eingeräumt, das Geld wird bis heute vermisst.

Kronzeuge Bellenhaus will in vollem Umfang kooperieren: "Er wird seine Schuld eingestehen", sagte vor Verhandlungsbeginn Florian Eder, einer von Bellenhaus' Verteidigern. Im Gegenzug erhoffen sich die Verteidiger die Entlassung aus der Untersuchungshaft und im Urteil einen "sehr deutlichen Strafnachlass" für ihren Mandanten.

Braun beschuldigt Kronzeugen

Braun hatte seinen ehemaligen Untergebenen bereits vor Prozessbeginn krimineller Machenschaften beschuldigt. Nach Brauns Darstellung existierten die seit 2020 vermissten Milliarden, wurden aber unter Beteiligung Bellenhaus' veruntreut. "Wenn derartige Angriffe kommen, sind das schlichtweg Nebelkerzen", sagte Bellenhaus' Anwalt dazu.

Ohne die angeblichen Erlöse des Drittpartnergeschäfts sei Wirecard defizitär gewesen, sagte Staatsanwalt Matthias Bühring bei der mehrstündigen Verlesung des 89-seitigen Anklagesatzes. Die Milliardenkredite waren laut Anklage notwendig, "um den Kollaps des Unternehmens zu verhindern". Braun habe sich mit anderen Spitzenmanagern zu einer "Bande" zusammengeschlossen, um das Bild einer erfolgreichen Firma vorzutäuschen, sagte Bühring.

DAX-Einstieg im Jahr 2018

Wirecard wickelte als Zahlungsdienstleister an der Schnittstelle zwischen Kreditkartenfirmen und Banken sowie Einzelhändlern und sonstigen Verkäufern gegen Gebühr elektronische Zahlungen ab. Das Unternehmen meldete jahrelang rasant steigende Umsätze und stieg 2018 an der Frankfurter Börse in den DAX auf. Braun wurde als größter Aktionär Milliardär.

Im Sommer 2020 brach der Konzern zusammen und meldete Insolvenz an. Die britische "Financial Times" war zuvor in jahrelanger Recherche den mutmaßlichen Manipulationen auf die Spur gekommen. Zweifel an den Wirecard-Bilanzen hatte Braun bis ganz kurz vor dem Kollaps in Bausch und Bogen zurückgewiesen. Im Prozess wird der Ex-Vorstandschef sich auf bohrende Fragen zu seiner Opferrolle einstellen müssen.

100 Verhandlungstage bis 2024

Die vierte Strafkammer des Münchner Landgerichts hat rund 100 Verhandlungstage bis ins Jahr 2024 angesetzt. Für den ersten Tag ist im Wesentlichen die Verlesung des umfassenden Anklagesatzes eingeplant.

Die Verhandlung in Münchens größtem Gerichtssaal begann mit gut 45 Minuten Verspätung. Der 53-jährige Braun betrat den unterirdischen Saal durch eine Seitentür, die zum angrenzenden Gefängnis führt. Er nahm schweigend neben seinen vier Verteidigern Platz. Es ist sein erster öffentlicher Auftritt seit gut zwei Jahren. Braun kam nach dem Zusammenbruch von Wirecard im Sommer 2020 in Untersuchungshaft. Im November 2020 wurde er im Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestags als Zeuge befragt.

Widersprechende Aussagen

Nach der Verlesung der Anklage ist eine erste Stellungnahme von Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm vorgesehen – ob es noch am Donnerstag dazu kommt, war zunächst unklar. Ein Urteil wird frühestens im übernächsten Jahr erwartet.

Abgeschlossen sind die Wirecard-Ermittlungen längst nicht, auch wenn nun der Prozess beginnt. Flüchtig ist nach wie vor der frühere Vertriebschef Jan Marsalek (Maršálek), eine weitere Schlüsselfigur. Es wird vermutet, dass der Österreicher in Moskau untergetaucht ist. (APA, Reuters, 8.12.2022)