Flucht vor der Giftgaswolke: In "White Noise" gerät die Bedrohung auch zum lustigen Abenteuerparcours.

Foto: Netflix

An einer berühmten Stelle von Don DeLillos Roman White Noise (dt. Weißes Rauschen) stehen zwei College-Professoren vor einer alten Scheune, einem pittoresken Fotomotiv, das an eine Ära erinnert, die lange zurückliegt. Davor steht ein Schild, das besagt: "Das ist die meistfotografierte Scheune in Amerika." Alle Besucher haben Kameras dabei. Da sagt Murray Siskind, der Elvis-Experte der Uni, zu Jack Gladney, dem Hitler-Experten, niemand würde die Scheune sehen. Denn sobald man das Schild gesehen hat, sei es unmöglich, noch die Scheune zu sehen.

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Die Stelle kommt in Noah Baumbachs Verfilmung zwar gar nicht vor, sagt aber viel über die Schwierigkeit aus, dieses luzide Buch zu verfilmen. DeLillo blickt mit kalter Ironie auf das von Massenmedien und Konsum gesättigte Leben in den 1980ern. Seine Satire war von postmodernen Philosophen wie Jean Baudrillard geprägt: Die Differenz zwischen Bildern und der Realität, Puffer wie das Fernsehen, die ihr eigenes Wissen, ihr eige- nes Rauschen generieren – sie unterwandern jede unmittelbare Erfahrung.

Wie geht man als Filmemacher damit um? Baumbach, seit seinem prämierten Scheidungsdrama Marriage Story (2019) so etwas wie der Vorzeige-Auteur bei Netflix, nutzt ein ganzes Bündel filmischer Stilmittel. Auf jeden Fall verstärkt er die komische Note des Buchs, indem er alles noch ein wenig greller, auch handfester macht.

Film über Filme

Sein bevorzugtes Werkzeug ist der Pastiche: Er macht einen Film über Filme, indem er sich an andere Handschriften anlehnt. Die nostalgische Suburbia von Steven Spielberg lässt sich genauso wiedererkennen wie die Wimmelbilder von Robert Altman. Die Familienszenen der Gladneys, der kunterbunten Patchworkfamilie im Zentrum des Films, sind hingegen wie ein Sitcom-Format umgesetzt. Nur dass alle in schnellen Schnitten durcheinanderquatschen und keiner mehr den Durchblick hat.

Der von Adam Driver (mit Wampe) gespielte Jack ist zu Hause schnell überstimmt. Am College hat er mit seinen "Hitler Studies" jedoch ein Alleinstellungsmerkmal gefunden. Deutsch spricht er nur bruchstückhaft, das Wort "Kartoffelsalat" kriegt er nicht über die Lippen. Doch wie im Supermarkt hilft auch im akademischen Bereich die Verpackung: Ausladende Gestik, Sonnenbrillen und eine wehende schwarze Robe sichern das wissenschaftliche "Standing" ab.

Parallelen zu Corona

Baumbach war 15 Jahre alt, als White Noise herausgekommen ist. Bei der neuerlichen Lektüre fand er plötzlich faszinierende Parallelen zur Gegenwart. Die Realität der Corona-Zeit, in der man täglich mit neuen Informationen konfrontiert war, ohne den neuen Ausnahmezustand adäquat verarbeiten zu können – diesen merkwürdig unwirklichen Erfahrungszustand nach einem Einschnitt fand er im Buch besonders prägnant.

Schon bei DeLillo besteht die Ironie freilich darin, dass die Katastrophe zu keinem neuen Denken veranlasst. Nach einem Zug- und Lastwagenunglück, dem sogenannten The Airborne Toxic Event, braut sich eine Giftwolke nahe der Kleinstadt zusammen. Eine unerwartete Bedrohung steht im Raum. Sie stellt das Sicherheitsgefühl der Familie infrage, richtig greifbar wird sie jedoch nicht. Ratlos blickt man aus dem Fenster, um schließlich doch überstürzt im Kombi abzureisen.

Abenteuer Wildnis

Baumbach inszeniert den Unfall als wuchtiges Actionstück. Bemerkenswerter ist aber die stoische Komik, mit der er die Flucht der Gladneys begleitet, die nicht nur ausstatterisch an 1980er-Familienkomödien mit Chevy Chase denken lässt. Vom gemeinschaftlichen Bettenlager bis zur Rette-sich-wer-kann-Logik in der Wildnis herrscht ausgelassene Abenteuerstimmung vor, einmal wird das eigene Auto in einer großartigen Flusssequenz sogar zum Boot umgewidmet.

Obwohl sich Baumbach eng an DeLillo orientiert – die Dialoge sind oft dieselben –, gelangt er zu einer überzeugend eigenständigen Balance zwischen banalen und profunden Seiten der Existenz. Die Komödie ist kein Abstellgleis, sondern schlägt momenthaft in echte Emotionen um. Greta Gerwig spielt Jacks Ehefrau Babette zwar als Frohnatur in Dauerlocken, doch irgendwann brechen ihre innersten Ängste hervor und provozieren einen Heulkrampf.

Das Reale ist in White Noise im gemächlichen Alltagsflow zum letzten Mysterium geworden. Mit dem eigenen Tod, der Endlichkeit können die Gladneys deshalb am wenigsten anfangen. Doch selbst die Todesahnungen, die den Experten für "Advanced Nazism" in der Nacht als Schatten das Fürchten lehren, sind am Morgen fast wieder vergessen. Und solange Verdrängung heißt, zu LCD Soundsystem im Supermarkt zu tanzen, ist es auch okay. (Dominik Kamalzadeh, 10.12.2022)