Das Entsetzen in Deutschland ist nach wie vor groß. "Dass unter den Beschuldigten eine ehemalige AfD-Abgeordnete des Deutschen Bundestages ist, ist natürlich ein sehr bemerkenswerter und sehr schlimmer Vorfall", sagt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Er nimmt Bezug auf die Berliner Richterin Birgit Malsack-Winkelmann, gegen die inzwischen ein Disziplinarverfahren läuft.

Reichsbürger, die gern die Reichsflagge schwingen, sollen allerhöchstens vor dem Reichstag demonstrieren, aber in selbigen nicht hinein.
Foto: Imago / Rolf Zöllner

Die 59-jährige ehemalige Abgeordnete (2017 bis 2021) war am Mittwoch im Zuge der Operation "Schatten" festgenommen worden – so wie 24 andere Männer und Frauen aus dem Milieu der Reichsbürger und Reichsbürgerinnen.

Diese bestreiten die Existenz der Bundesrepublik Deutschland als legitimer und souveräner Staat und lehnen daher auch ihr Rechtssystem sowie Staatsvertreter ab. Viele akzeptieren Gerichtsbescheide und Verwaltungsbescheide nicht, weigern sich auch, Steuern zu bezahlen. In ihren Augen existiert das Deutsche Kaiserreich weiter.

In den vergangenen Jahren kam es in Deutschland häufiger zu Angriffen auf Gerichtsvollzieher und Gerichtsvollzieherinnen. 2016 starb in Georgensgmünd (Bayern) ein Polizist, als ein Reichsbürger das Feuer eröffnete, weil ihm seine Waffen abgenommen werden sollte.

Auslieferung aus Österreich

Verhaftet worden ist am Mittwoch in Frankfurt am Main auch Prinz Heinrich XIII. Reuß. Der 73-Jährige soll der Kopf der Bewegung sein und sich schon als neues Staatsoberhaupt gesehen haben.

Razzien fanden nicht nur in Deutschland statt, sondern auch in Kitzbühel und Perugia (Italien). Laut Krone wurde in Kitzbühel ein Gastronom festgenommen, der den militärischen Arm der Truppe in Kantinen hätte verpflegen sollen. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe hat ein Auslieferungsverfahren gegen den Mann, einen deutschen Staatsbürger, eingeleitet.

In Deutschland gibt es, neben der ehemaligen Abgeordneten Malsack-Winkelmann, einen weiteren Bezug zur AfD. Einer der Inhaftierten, der verdächtigt wird, einer terroristischen Vereinigung anzugehören, ist Christian W. Er saß bis 2020 im Stadtrat der sächsischen Gemeinde Olbernhau.

Die Verbindung zwischen Reichsbürgern und AfD beunruhigt viele Politiker in Deutschland. So fordert SPD-Chef Lars Klingbeil Konsequenzen: "Die AfD gehört flächendeckend auf die Beobachtungsliste des Verfassungsschutzes und nicht in die Parlamente, in die Gerichte oder in den öffentlichen Dienst."

Die Razzia habe abermals eine enge Verbindung der gewaltbereiten rechtsextremen Szene mit der Partei gezeigt. Die AfD sei eine "offen verfassungsfeindliche Partei", die als "parlamentarische Schnittstelle für Hass, Hetze und Gewalt" agiere.

Bedenkliche Entwicklung

Der Berliner Politologe und Extremismusforscher Hajo Funke weist im Gespräch mit dem STANDARD auf Parallelen zwischen AfD und Reichsbürger-Szene hin: "Sie lehnen Demokratie und den Staat ab." Bei der AfD dominiere mittlerweile der – eigentlich formal abgeschaffte – "Flügel" rund um den Thüringer AfD-Chef Björn Höcke.

Höcke, so Funke, habe am 3. Oktober, dem deutschen Nationalfeiertag, in Gera (Thüringen) ein "faschistisches Gesamtprogramm" skizziert und klargemacht, dass er Menschen aus Asien und Afrika nicht in Deutschland haben wolle. "Diese Ideologie ist in ihrer Gewaltaffinität ernst zu nehmen, hier gibt es Überlappungen zum Reichsbürgertum", sagt Funke.

Zwar ging die AfD-Spitze auf Distanz zu den Reichsbürgern und deren mutmaßlichen Putsch-Plänen. "Wir verurteilen solche Bestrebungen und lehnen diese nachdrücklich ab. Nun gilt es die Ermittlungen abzuwarten. Wir haben vollstes Vertrauen in die beteiligten Behörden und fordern eine schnelle und lückenlose Aufklärung", heißt es in einer Erklärung der Parteichefs Alice Weidel und Tino Chrupalla.

Doch es findet sich kein Wort zur früheren AfD-Abgeordneten Malsack-Winkelmann. Und in der AfD gibt es auch noch eine ganz andere Sichtweise auf die Razzia.

"Die AfD gehört nicht in die Parlamente, in die Gerichte oder in den öffentlichen Dienst." – Lars Klingbeil, SPD-Chef

So twittert der Bundestagsabgeordnete Petr Bystron: ",Staatsstreich‘ mit 50 Rentnern? Die würden nicht mal das Rathaus von San Marino einnehmen! Die Bemühungen, eine ,Gefahr von Rechts‘ herbeizufabulieren, werden immer absurder." Die Durchsuchungen und Festnahmen bezeichnet er als den "größten Machtmissbrauch in der Geschichte der Bundesrepublik und eine massive Einschüchterung der gesamten Opposition".

Ähnlich klingt es beim Berliner AfD-Politiker Georg Pazderski. Er nennt die Razzia eine "kindische Inszenierung" und "großes Kino", die die "Bluttat von Illerkirchberg" aus den Schlagzeilen verdrängt habe. In Illerkirchberg (Baden-Württemberg) wird ein Asylbewerber aus Eritrea verdächtigt, zwei Schülerinnen mit einem Messer attackiert zu haben. Ein Mädchen starb dabei.

In Berlin wird nun – angesichts der Verbindungen zwischen AfD und Reichsbürgern – Sorge um die Sicherheit der Bundestagsabgeordneten im Reichstag laut. Laut Bundesanwaltschaft hatte die Gruppe auch eine Stürmung des Reichstags geplant. Und Malsack-Winkelmann besaß, wie andere ausgeschiedene Parlamentarier auch, weiterhin Zugang zu den Räumlichkeiten. Mittlerweile darf sie den Bundestag nicht mehr betreten.

Parlament will handeln

FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle fordert eine Überprüfung der Zugangsberechtigung zum Bundestag für alle ehemaligen AfD-Abgeordneten. Die Bundestagsverwaltung solle in jedem einzelnen Fall prüfen, ob auch bei anderen früheren AfD-Abgeordneten neue Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden vorlägen, die auf eine Gefährdung des Parlaments und seiner Liegenschaften schließen lassen.

"Es wäre unerträglich, wenn frühere AfD-Abgeordnete derartige Angriffe durch einen Zutritt zum Parlament ermöglichen würden", sagt Kuhle. Laut Bundestagsvizechefin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) werde man das Thema "in allen entscheidenden Gremien behandeln". Geplant sind auch Sondersitzungen im Innen- und Rechtsausschuss.

Laut der Tageszeitung (Taz) wurde bei der Razzia auch eine "Feindesliste" gefunden. Darauf seien 18 Namen gestanden, darunter jene der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), der SPD-Chefin Saskia Esken, von SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert und von Ex-CDU-Chef Armin Laschet.

Kühnert hat bestätigt, dass sein Name auf dieser Liste gefunden wurde. Das Bundeskriminalamt habe ihn am Mittwoch, am Tag der Durchsuchungen, darüber informiert. (Birgit Baumann aus Berlin, 10.12.2022)