Sie treffen sich oft – doch nun schon lange nicht mehr in Minsk: Putin (links) und der auf seine Hilfe angewiesene Lukaschenko (rechts).

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Um Fußball ging es dieser Tage nicht nur in Katar, sondern auch in einer bizarren TV-Rede des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko. Darin beklagte der seit 1994 regierende Autokrat das Fehlen des belarussischen Teams bei der Weltmeisterschaft.

Dabei gibt es in Minsk aktuell wohl Wichtigeres zu besprechen als das ernüchternde Niveau der heimischen Kicker. Schließlich wird am Montag in der Hauptstadt Minsk kurzfristig ein seltener und überaus mächtiger Gast erwartet: Russlands Präsident Wladimir Putin.

Es ist sein erster Besuch seit rund dreieinhalb Jahren, und das in einer für Belarus durchaus heiklen Zeit: Russland lässt seit Oktober neuerlich tausende Soldaten und Militärtechnik nach Belarus verlegen – an die Grenze zur Ukraine. Brisant ist das allemal: Schließlich hat Belarus seinem russischen Nachbarn im Februar als Aufmarschgebiet für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine gedient. Damals waren es laut Nato-Angaben 30.000 russische Soldaten, die unter dem Deckmantel von Übungen von dort aus innerhalb eines Tages versuchen sollten, Kiew zu erstürmen – vergeblich.

Sorgen über neue Front

Es ist also kaum überraschend, dass Putins unüblicher Besuch nun angesichts der Truppenbewegungen erneut Spekulationen über die Eröffnung einer weiteren Front im Ukraine-Krieg befeuert. Allerdings handelt es sich diesmal um 9.000 russische Soldaten, die gemeinsam mit belarussischen Truppen trainieren und nicht besonders gut ausgerüstet sind. Auch weil Minsk der russischen Armee derzeit alte Panzer liefert und nicht umgekehrt.

Die belarussische und die russische Armee trainieren gemeinsam in Belarus – wofür?, lautet weiterhin die große Frage.
Foto: Russian Defense Ministry Press Service

Ein baldiges Eingreifen der belarussischen Armee im Ukraine-Krieg halten zahlreiche Militärexperten daher vorerst für unwahrscheinlich, wenn auch nicht für ausgeschlossen. Diese Einschätzung teilt der Belarus-Experte Artjom Schraibman im STANDARD-Gespräch. Viel eher sieht er hinter den Truppenbewegungen ein Ablenkungsmanöver, das die ukrainischen Truppen dazu zwingen soll, Stellungen entlang der langen Belarus-Grenze im Norden zu halten – anstatt im Donbass gegen russische Truppen zu kämpfen.

Putin angelt nach Erfolgen

Über den unmittelbaren Sinn und Zweck von Putins seltenem Besuch in Minsk lässt sich vorerst ebenfalls nur mutmaßen. Laut vagen Ankündigungen wollen Putin und Lukaschenko ihre wirtschaftliche und strategische Zusammenarbeit vertiefen. Dass Putin aber allein dafür nach Minsk anreisen würde, hält Belarus-Experte Pawel Usow, der dem Warschauer Zentrum für politische Analyse und Prognosen vorsteht, für unwahrscheinlich. Schließlich treffen sich die beiden Staatschefs mehr oder minder monatlich – nur eben zumeist in Russland.

"Putin fischt in Minsk nach etwas, das er zu Hause als politischen oder militärischen Erfolg verkaufen kann", sagt Usow zum STANDARD. Er wolle damit von den riesigen Verlusten ablenken, die ihm der Ukraine-Krieg eingebrockt hat – statt der erhofften territorialen Zugewinne und steigender Beliebtheitswerte.

Rubel statt Dollar

Putin könnte laut Usow in Minsk versuchen, dieses geopolitische Versagen zu kompensieren – indem er Belarus noch stärker an Russland angliedert. Die beiden Staaten haben bereits in den 1990er-Jahren ein Abkommen über eine sehr enge Sicherheitskooperation vereinbart: den sogenannten Unionsstaat.

Der Kreml setze alles daran, diesen auszubauen: Seit Putin Lukaschenko bei der Zerschlagung der Proteste 2020 half, treibe er dies im Gegenzug voran, sagt Usow. Ein Beispiel sei die Einigung, für bilateralen Handel nun Rubel statt US-Dollar zu nutzen. Erst Anfang Dezember beschlossen die Verteidigungsminister beider Länder Änderungen am Sicherheitsabkommen, doch ohne Details zu nennen. Künftig könnte Russland laut Usow etwa fordern, dass Belarus seine Armee dem Unionsstaat unterstellt.

Belarus wäre dann nur mehr formal ein unabhängiger Staat und die Einflussnahme des Kreml per Abkommen legitimiert. Es sei ein ähnliches Vorgehen wie bei den Scheinreferenden in der Ukraine, die eine Besatzung verschleiern sollen, meint Usow. Entsprechenden Bedenken versucht Lukaschenko entgegenzuwirken: Den Besuch Putins kommentierte er mit dem Versprechen, die Souveränität des Landes zu wahren.

Totale Abhängigkeit

Davon sei jedoch ohnehin wenig übrig, meint Schraibman: Russische Soldaten befänden sich ohne Ablaufdatum auf belarussischem Gebiet. Und weil die Exporte in die westlichen Nachbarländer und die Ukraine eingebrochen seien, sei Minsk nunmehr komplett auf russische Abnehmer, Kredite und günstige Energie angewiesen.

Dass Belarus längst keine eigene Politik mehr betreibt, entkräftet für Schraibman und Usow auch wilde Gerüchte über eine angebliche Vergiftung des Außenministers Wladimir Makej. Er war im November überraschend gestorben. Makej, der an der Wiener Diplomatischen Akademie studiert hat, galt als Verfechter eines "neutralen Belarus", was ihm Argwohn von russischer Seite und Beliebtheit im Westen einbrachte. Doch zuletzt blieb auch er ganz auf der Linie des Kreml – und sah die Schuld für den Ukraine-Krieg im Westen. (Flora Mory, 19.12.2022)