In der Region Cherson sind ukrainische Streitkräfte schon länger auf dem Vormarsch. Zuletzt sorgten aber vor allem ukrainische Drohnenangriffe auf Ziele in Russland für Aufsehen.

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Erst war Düsenlärm zu hören, dann eine Explosion, es folgte ein heller Blitz. Anwohnerinnen und Anwohner des Militärflugplatzes Engels in der russischen Region Saratow veröffentlichten die Bilder im Netz. Zuerst vermutete man einen Flugzeugabsturz. Jetzt ist klar: Eine ukrainische Drohne hat die Explosion verursacht. Die Schäden waren wohl gering. "Es gibt keinen Anlass zur Sorge", beruhigte Roman Busargin, der Gouverneur der Region Saratow, die Bevölkerung.

Doch die ist beunruhigt. "Aufgrund der instabilen Lage in der Welt habe ich immer wieder das Thema Unterstände, Keller, in denen sich Menschen im Gefahrenfall verstecken könnten, angesprochen", schreibt ein Anwohner auf VKontakte, dem russischen Pendant zu Facebook. "Meine offizielle Anfrage an das Ministerium für Notsituationen der Region wurde damit beantwortet, dass die Verantwortung für Notunterkünfte bei den lokalen Regierungen liegt. Daher warten wir SEHR auf offiziell angeordnete Informationen der Verwaltungen bezüglich der Liste der verfügbaren Unterkünfte, die für den Aufenthalt von Personen geeignet sind!" Der Militärflughafen Engels ist ein wichtiger Stützpunkt. Von dort fliegt die russische Luftwaffe immer wieder Bombenangriffe ins Nachbarland.

Der Militärflughafen Engels auf einem Archivbild von Anfang Dezember.
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Neben dem Militärflughafen Engels griffen ukrainische Drohnen am 5. Dezember auch einen entfernteren Stützpunkt in der Region Rjasan an. Einen Tag später erfolgte ein Drohnenangriff auf ein Tanklager in Kursk. Am selben Tag schoss die russische Luftabwehr eine Drohne ab, die den Flugplatz Belbek auf der annektierten Halbinsel Krim anflog. Die Angriffe auf die russischen Militärflugplätze bilden die logische Fortsetzung einer Reihe von Drohnenattacken im Grenzgebiet und auf der Halbinsel Krim. Bisheriger Höhepunkt war eine kombinierte Attacke aus der Luft und von der See auf den Hafen der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol im Oktober.

Moskau erreichbar

Der Flugplatz Engels ist etwa 630 Kilometer von der Ukraine entfernt. Nach russischen Angaben wurde eine Drohne vom Typ TU-141 eingesetzt. Sie kann mehr als 600 Kilometer zurücklegen. Damit könnte sie auch Moskau erreichen. In den 1970er-Jahren in der Sowjetunion entwickelt, wurde sie immer wieder modernisiert. Nach eigenen Angaben arbeitet die Ukraine an einem Nachfolgemodell.

Russland bereiten die ukrainischen Drohnenangriffe Sorge. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow betont, dass Moskau weiter die Gefahr eines Überfalls auf die Krim sehe. "Das Risiko besteht zweifellos weiter, weil die ukrainische Seite ihre Linie der Organisation von Terroranschlägen fortsetzt", sagte Peskow. Die Flugabwehr zeige aber, dass die Gegenmaßnahmen wirkten. Peskow wies auch Äußerungen etwa aus Deutschland und den USA zurück, nach denen die Ukraine sich in ihrem Verteidigungskampf gegen die russische Aggression nicht auf ihr eigenes Staatsgebiet begrenzen müsse. Dadurch werde der Konflikt ausgeweitet, warnte Peskow.

Russische Militärblogger fordern, "erhebliche Vergeltungsschläge gegen die Ukraine zu genehmigen und die Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung auf russischem Territorium zu intensivieren", so ein Bericht des US-Thinktanks ISW. Selbst Kreml-kritische Kommentatoren wundern sich schon länger darüber, dass Kreml-Chef Wladimir Putin die Attacken nicht zum Anlass nimmt, um noch stärker zurückzuschlagen. Vor allem für die Luftüberwachung und Flugabwehr der stolzen Atommacht gelten die Angriffe als Bloßstellung. Putin ist unter Druck.

Besorgnis in Brüssel

Am Wochenende kamen ukrainische Angriffe vor allem auf das von Russland besetzte Melitopol hinzu. Die ukrainischen Behörden sprachen von zahlreichen russischen Toten und Verletzten, Moskau räumte eine Handvoll Verletzter ein.

Für Putin selbst standen am Sonntag – zumindest nach außen hin – diplomatische Bemühungen im Vordergrund: Er telefonierte mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Dabei soll es unter anderem darum gegangen sein, über den für ukrainische Getreideexporte eingerichteten Schiffskorridor im Schwarzen Meer auch andere Lebensmittelprodukte und Rohstoffe zu transportieren. Der Schwarzmeerhafen Odessa war am Sonntag allerdings wegen russischer Angriffe auf das Energiesystem in der Region vorerst außer Betrieb.

Die Vertiefung russisch-türkischer Wirtschaftsbeziehungen gab Brüssel jedenfalls am Wochenende "Anlass zu großer Sorge", wie es in einem Schreiben des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell an das EU-Parlament hieß.

Neben der Türkei bleibt beim Ukraine-Krieg auch das EU-Mitglied Ungarn ein Sorgenkind Brüssels. Am Samstag einigte man sich schließlich ohne Budapest auf ein 18-Milliarden-Paket für die Ukraine. (Jo Angerer, Noura Maan, 11.12.2022)