Eine Gesetzesänderung sorgte dafür, dass der Straßenstrich in Vorarlberg boomte. Bis Mitte der 90er starben 16 Menschen.

Foto: Heribert Corn

Wenn man von in die Luft gejagten Wohnwagen samt zwei Todesopfern – darunter ein Kind –, von vergrabenen Frauenleichen, Schießereien auf offener Straße und regelmäßigen Schlägereien und Messerstechereien hört, würden heutzutage wohl die wenigsten an Vorarlberg denken. Von Mitte der 1970er bis Mitte der 1990er trug sich aber genau das im beschaulichen Ländle zu: 16 getötete Personen sollte der sogenannte Zuhälterkrieg am Ende fordern, elf davon waren Zuhälter, fünf Prostituierte. Auch der bekannte Prostituiertenmörder Jack Unterweger zählt zu den Protagonisten dieses brutalen Kapitels der Vorarlberger Zeitgeschichte. Er soll Ende 1989 eine Sexarbeiterin erwürgt haben, ihre Leiche fand man im Lustenauer Ried. In einem zweiten Mord an einer Sexarbeiterin wurde ein Freier als Täter überführt.

Femizid noch kein Thema

Seit einiger Zeit wird bei Tötungsdelikten an Frauen regelmäßig die Frage gestellt, ob es sich dabei um einen Femizid handeln könnte: Also ob das Opfer aufgrund seines Geschlechts getötet wurde. Allgemein ist strukturelle Gewalt an Frauen in den vergangenen Jahren auch politisch zu einem großen Thema geworden. In den 1970ern oder 1980ern stellten sich diese Fragen in dieser Dimension nicht.

Das Machtgefälle zwischen Prostituierten und Freiern bzw. Zuhältern ist augenscheinlich. Auch darauf wird jährlich am Internationalen Tag gegen Gewalt an Sexarbeiterinnen, der diesen Samstag begangen wird, hingewiesen. Expertinnen betonen dabei auch, dass Verbote von Prostitution die Frauen erpressbarer, angreifbarer und wehrloser machen. Gewalt wird dann zusätzlich nicht angezeigt, weil man selbst Regeln gebrochen hat.

Das dürften auch die Sexarbeiterinnen im Vorarlberger Zuhälterkrieg damals so erlebt haben. Gewalt erfuhren sie nicht nur in den schlimmsten Fällen, die bis zur Tötung gingen. Sowohl Freier als auch Zuhälter schlugen die Frauen, auch zu Vergewaltigungen kam es. Angezeigt wurden die Taten aber nur äußerst selten, wie eine Frau erzählt, die ab Mitte der 1980er die Szene genau beobachtete und viele ehemalige Sexarbeiterinnen aus jener Zeit kennt. Neben der Sorge, selbst bestraft zu werden, gab es andere Gründe: "Da war immer die Angst da, nicht ernst genommen zu werden. Diese Erfahrungen haben die Frauen mehrfach auch bei der Polizei gemacht. Und wenn es einmal zu einer Verhandlung kam, dann ruderten die meisten wieder aus Angst vor viel schlimmerer Vergeltung zurück", beschreibt die Insiderin die schwierige Situation.

Sexarbeit im Verborgenen

Während der "Zuhälterkrieg" mit der Einsetzung einer Taskforce Mitte der 1990er sein Ende fand und Ruhe auf den Straßen im Ländle einkehrte, verschwand die Prostitution freilich nicht. Die Sexarbeit findet seither im Verborgenen statt. Wie Prostitution in Österreich geregelt wird, ist Ländersache, der Vollzug Gemeindeangelegenheit (siehe Wissen). In Vorarlberg herrscht ein Quasi-Verbot: Das Sittenpolizeigesetz würde Bordelle zwar zulassen, die vollziehenden Gemeinden wehren sich aber. Versuche, diese zu eröffnen, scheiterten in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach. Die örtliche Bevölkerung und die Kirche wehrten sich jedes Mal lautstark und erfolgreich gegen ein solches "Etablissement".

Die Sorgen vieler Sexarbeiterinnen sind heute jenen von damals sehr ähnlich, wie ein tragischer Fall vom Sommer zeigt: Im oberösterreichischen Ternberg wurde eine Sexarbeiterin erwürgt. Der Wiener Strafverteidiger Manfred Arbacher-Stöger ging mit dem schweren Vorwurf an die Medien, wonach Anrufe von Freundinnen der Frau in der Tatnacht von der Polizei nicht ernst genommen worden seien. Auch er selbst habe sich bei der örtlichen Polizei gemeldet und gesagt bekommen, "wenn nichts ist, ist nichts", wie der Anwalt der Krone damals erzählte. Er habe dann selber das Landeskriminalamt eingeschaltet, wenige Stunden später wurde die Leiche der Rumänin entdeckt. Ein Freier gestand die Tat.

Die Rolle der Polizei

Nimmt die Polizei Sexarbeiterinnen nicht ernst? Eine Untersuchung aller Unterlagen, wie digitale Funk- und Einsatzprotokolle und aufgezeichnete Telefonate, hätte gezeigt, dass sich die örtlichen Beamten keine Vorwürfe machen müssten, wie Landespolizeidirektor Andreas Pilsl im Oktober sagte. Das habe auch das Bundesamt für Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung festgestellt, das die Protokolle erhalten habe. Bei den Anrufen in der Tatnacht sei eine falsche Adresse genannt worden, außerdem habe es auch Sprachprobleme gegeben, sagt Pilsl zu dem kritisierten Einsatz.

Der Landespolizeidirektor sieht ein grundsätzliches Problem: Für gute Polizeiarbeit sei man immer auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen. Aber bei "sozialen Randgruppen und ethnischen Gruppierungen ist das Vertrauen in die Polizei nicht groß".

Weitreichende Folgen

In welchem Abhängigkeitsverhältnis die rund 300 Frauen standen, die zu Spitzenzeiten am Vorarlberger Straßenstrich tätig gewesen sein sollen, wird auch heute zum Teil noch verkannt. So erschien 2016 ein Text über diese Zeit, in dem davon die Rede ist, dass die Frauen überall "scharf auf die besten, weil gewinnträchtigsten Standplätze" gewesen seien: "Logisch, dass die Zuhälter das Interesse ihrer Damen teilten und sich für sie starkmachten – im wahrsten Sinne des Wortes. Ebenso logisch, dass dies nicht konfliktfrei vonstattengehen konnte", heißt es in dem Text. Jene Frau, die damals die Szene begleitete, widerspricht dieser Deutung. Etliche Frauen hätten nichts zu melden gehabt und das auch zu spüren bekommen.

Mit einigen von "damals" ist die Frau auch heute noch in Kontakt. Ihre Zeit am Straßenstrich wirke bei den meisten noch nach – nicht nur psychisch oder physisch. Denn eine oft verkannte Dimension seien dabei beispielsweise die Familien der Frauen. Viele Sexarbeiterinnen hätten damals den Nachwuchs aus ungewollten Schwangerschaften zur Adoption freigegeben. Das geschah jedoch nicht immer freiwillig. "Jetzt, im Alter von 50 bis 60 Jahren, beschäftigt das einige von ihnen. Viele fragen sich, wie es diesen Kindern wohl geht und wo sie sind." In manchen Fällen habe es eine Kontaktaufnahme gegeben.

Was sich geändert hat

Diese sei teilweise auch von den Kindern ausgegangen. Der Sohn einer ermordeten Sexarbeiterin habe sich beispielsweise auf die Suche nach seiner Mutter gemacht und wurde fündig.

Während die Problemlagen für Sexarbeiterinnen ähnlich blieben, haben sich allerdings andere Dinge geändert: Die Sexarbeiterinnen vom Vorarlberger Straßenstrich kamen großteils aus Österreich, es seien Frauen jeden Alters gewesen. Heute haben die meisten Sexarbeiterinnen Migrationsgeschichte und sind sehr jung. Eine Kombination, die laut Expertinnen dafür sorgt, dass sie leichter Opfer von Gewalt werden. (Lara Hagen, 12.12.2022)