Die saudische Planstadt Neom soll neun Millionen Menschen beherbergen.

Foto: AFP/Neom

Der Tag beginnt mit einem leichten Frühstück. Ein Müsli aus Biogetreideflocken, das mit Früchten aus einer vertikalen Farm angereichert wird, dazu ein frisches Ei, das mit Solar- und Windenergie gekocht wird. Während man eine Proteinkapsel mit einem Schluck Chicoree- Kaffee herunterspült, misst die Smartwatch den Blutzuckerspiegel und errechnet auf Basis physiologischer Daten einen maßgeschneiderten Ernährungsplan. Ein letzter Blick aus dem Fenster, dann verlässt man die Wohnung im 13. Stock und geht durch einen schmalen, schlauchartigen Gang.

Die Sensoren haben an den Schritten erkannt, dass der Bewohner aus dem Apartment 1309 gerade auf den Fluren unterwegs ist, und den Aufzug pünktlich zur errechneten Ankunftszeit geordert. Wenn der Bewohner in den Aufzug steigt, hat das intelligente System bereits auf die erste Etage gedrückt, so wie es der Fahrstuhlnutzer jeden Werktag um diese Uhrzeit tut. Auf der Plattform 1 verkehren Skytrains, die die Menschen an verschiedene Punkte der Megastruktur bringen: Arztpraxen, Büros, Kitas, Supermärkte. Nach zehnminütiger Fahrt ist man im Büro angekommen, die Glastüre öffnet sich automatisch per Gesichtsscan.

Das Gebäude als Stadt

Nachdem man im Metaverse mit den Geschäftspartnern aus Asien vier Stunden am virtuellen Konferenztisch saß, stellt der Aufmerksamkeitsassistent fest, dass es Zeit für eine Pause ist. Im Farm-to-table-Restaurant auf der palmenumsäumten Außenterrasse steht heute ein In-vitro-Fleischburger auf dem Speiseplan.

Um auf die tägliche Schrittezahl von 10.000 zu kommen, die das Bonusprogramm der Krankenkasse mit Prämien vergütet, geht man noch auf das Laufband im Fitnessstudio, das sich im Untergeschoß der Megacity befindet, ehe man um zehn Uhr abends todmüde in sein smartes Bett fällt. Der Bewohner war an diesem Tag viel in der Stadt unterwegs, hat aber das Gebäude nie verlassen. Denn das Gebäude ist die Stadt.

Prototyp in den USA

Was nach einem futuristischen Update von Fritz Langs Stummfilmklassiker Metropolis von 1927 klingt, könnte schon bald Realität werden. Stadtplaner wollen riesige Gebäudestädte errichten, autarke Megastrukturen, die sich weitgehend selbst mit Energie, Wasser und Nahrungsmitteln versorgen – eine Art Raumschiff auf dem Planeten Erde. Von vertikalen Farmen über Schulen bis hin zur Müllverbrennung ist alles unter einem Dach vereint. Lieferkettenprobleme? Fehlanzeige.

Die Idee der ultraverdichteten Stadt geht zurück auf das Konzept der "Arcology" von Paolo Soleri. Der italienische Architekt ließ 1970 in der Wüste von Nevada eine autofreie Ökostadt für 5000 Menschen errichten: Arcosanti.

Im US-amerikanischen Arcosanti probt man seit 1970 die Utopie einer ultraverdichteten Stadt.
Foto: iStockphoto

Zwischen Zypressen und Olivenbäumen entstand ein Ensemble von kuppelförmigen Gebäuden, die energieautark waren, bevor es überhaupt Passivhäuser gab: Die warme Luft der Gewächshäuser zirkulierte durch ein Tunnelsystem und heizte so die Wohnräume in kalten Winternächten. Soleri wollte die Architektur mit der Ökologie versöhnen. Doch sein Lebenswerk blieb unvollendet: Nur fünf Prozent des ursprünglichen Siedlungsplans wurden realisiert. Heute leben noch rund 80 Menschen in der Hippie-Kommune, die mehr eine Company-Town ist, die vom Verkauf von Seifen und Windglocken lebt. Dass die Ökosiedlung heute nur mit dem Auto erreichbar ist, ist eine bittere Ironie der Geschichte, doch die jährlich 50.000 Besucher zeugen davon, dass das Interesse an solchen Experimentalstädten ungebrochen ist.

Run auf die Metropolen

Architekt Soleri suchte nach Lösungen für Probleme, die heute drängender denn je sind: Staus, Luftverschmutzung, Dichtestress. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden bis 2050 zweieinhalb Milliarden mehr Menschen in Städten leben.

Schon heute platzen Metropolen aus allen Nähten, ächzt die öffentliche Infrastruktur unter der Last von Millionen Nutzern. Megacitys wie Dhaka und Jakarta könnten durch den Anstieg des Meeresspiegels in den nächsten Jahren versinken, die indonesische Regierung baut bereits an der neuen Hauptstadt Nusantara, die auf der Insel Borneo aus dem Urwaldboden gestampft werden soll.

Winterspiele in der Wüste

Auch in Saudi-Arabien rollen die Bagger: In dem autoritär regierten Königreich soll in den nächsten Jahren auf einer Fläche von 34 Quadratkilometern eine emissionsfreie Planstadt entstehen, die 170 Kilometer lang, aber nur 200 Meter breit ist. "The Line", wie das Projekt heißt, soll Platz für neun Millionen Einwohner bieten und dank erneuerbarer Energien für ein angenehmes Mikroklima sorgen. Eine Zuglinie verbindet das eine mit dem anderen Ende in nur 20 Minuten. Straßen und Autos gibt es schon gar keine mehr.

Saudi-Arabien plant eine Stadt, die 170 Kilometer lang, aber nur 200 Meter breit ist – und zwar mitten in der Wüste.
Foto: AFP/Neom

"The Line" soll Teil der Sonderwirtschaftszone Neom werden, in die das saudische Königshaus in den nächsten Jahren 500 Milliarden Dollar investieren will. Kronprinz Mohammed bin Salman will das Land von Grund auf modernisieren. Neben zweifelhaften Sportevents wie den Asiatischen Winterspielen 2029 gehören dazu auch ambitionierte Bauvorhaben wie der Jeddah Tower, der bei seiner Fertigstellung einen Kilometer in den Himmel ragen soll.

Seit Jahren liefern einander China und die Golfstaaten ein Wettrennen um das höchste Gebäude der Welt. Immer höher wollen die Herrscher hinaus und stellen die Statiker vor immer größere Herausforderungen. Denn: Hochhäuser versprechen Prestige. Mit einer Höhe von 500 Metern ist "The Line" immer noch größer als das Empire State Building, doch eigentlich ist die megalomane Struktur ein Landscraper: ein Hochhaus, das auf der Seite liegt. Aus der Luft sieht die Bandstadt aus wie ein grüner Strich in der Wüstenlandschaft.

Scheiternde Planstädte

Doch hinter der gläsernen Fassade steckt jede Menge Hightech: Künstliche Intelligenz, die mit Echtzeitdaten aus Sensoren, Kameras und Smartphones gespeist wird, soll das (Nutzungs-)Verhalten der Bewohner vorhersagen und Dienstleistungen wie Anschlussverbindungen so "streamlinen", dass man kaum noch warten muss. Der Bewohner muss nicht mehr sein Smartphone aus der Tasche holen, um nach einer Verbindung zu schauen – der autonome Shuttle wartet bereits beim Ausstieg, weil die KI aus den Routinen der Bewohnerinnen und Bewohner lernt und weiß, dass Person X einen Arzttermin hat. Bloß: Will man in so einer überwachten Stadt mitten in der Wüste leben, in der es außer Konsum nichts gibt?

"The Line" folgt mehr der Hybris gescheiterter Planstädte wie Masdar City als dem Trend der Ruralisierung von Städten, die die Monopolisierung von Landwirtschaft auf dem Land grundsätzlich infrage stellt. So hat der Architekt Carlo Ratti den Entwurf eines "Farmscrapers" präsentiert, eine Art Gewächshaus in Hochhausform: Der Jian Mu Tower, der in der chinesischen Millionenmetropole Shenzhen gebaut wird, soll die Stadt zum Garten machen und 40.000 Menschen mit frischem Obst und Gemüse versorgen.

Ein Modell für die Zukunft? Gut möglich. Denn bei dem platzsparenden Indoor-Farming werden durch intelligente Bewässerung nicht nur Ressourcen geschont – unter den kontrollierten Anbaubedingungen werden auch so gut wie keine Pestizide benötigt. Vielleicht kommen die Lebensmittel für Städter in Zukunft nicht mehr vom Bauernhof, sondern direkt vom Hochhausgarten um die Ecke. (Adrian Lobe, 14.12.2022)