Präsidentin Roberta Metsola berichtete dem Plenum über einen beispiellosen Korruptionsskandal. Im Mittelpunkt steht die Griechin Eva Kaili, eine Vizepräsidentin.

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Bis Montag kurz nach 17 Uhr konnte man noch annehmen, der Korruptionsskandal rund um eine Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Eva Kaili, sei bloß ein Kriminalfall mit einigen bestechlichen Personen rund um eine Politikerin aus Griechenland. Dann trat die Präsidentin des Hauses, Roberta Metsola, vor das Plenum in Straßburg, um zum ersten Mal eine öffentliche Erklärung abzugeben.

Die Anspannung und die Verunsicherung in den Abgeordnetenreihen waren spürbar. Den ganzen Tag über war der Politikbetrieb in allen EU-Institutionen überschattet von Sorgen über einen drohenden generellen Vertrauensverlust in der europäischen Politik. Viele Spekulationen über die Hintergründe nach der spektakulären Verhaftung Kailis machten die Runde. Was noch?

Die 44-Jährige, bei der im Zuge einer Hausdurchsuchung angeblich 600.000 Euro in Geldsäcken gefunden worden waren, sitzt mit drei weiteren Verdächtigen in Brüssel in U-Haft. Die Antikorruptionsbehörde in Griechenland ließ sämtliche Vermögenswerte Kailis einfrieren, ihre Konten, Firmen und Schließfächer. Dass Kaili ihre Funktion als Vizepräsidentin sofort verlieren würde, war in den Fraktionen praktisch beschlossene Sache.

Von Metsolas Rede wurde erwartet, dass sie den Mandataren erkläre, wie es nun weitergehe: Antrag auf Absetzung der Stellvertreterin durch das Präsidium des Parlaments; dann am Dienstag die Abwahl durch eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Abgeordneten; und dann eine breite Debatte, wie man Transparenz deutlich verbessern könnte, das galt als ausgemacht.

Neuer Ethikrat

Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hatte sich "aufs Äußerste besorgt" gezeigt und schlug die Einrichtung eines Ethikrates zur Überwachung der EU-Institutionen vor.

So in etwa war die Erwartung im Plenarsaal. Aber es kam dann doch ganz anders, viel dramatischer. Die Parlamentspräsidentin redete nicht lange herum, um auf die eigentliche Dimension des Skandals zu kommen: "Das Parlament wird angegriffen, die Demokratie wird angegriffen, unsere Art der offenen, freien demokratischen Gesellschaft wird angegriffen."

Sie wolle sich bemühen, "Wut, Zorn und Kummer" zu unterdrücken, die Ermittlungen der belgischen Justizbehörden nicht zu gefährden und auch die Unschuldsvermutung nicht zu verletzten. Dann brach es aus ihr heraus, was hinter bisher bekannten Machenschaften stehe: ein "kriminelles Netzwerk" mitten im Parlament.

"Bösartige Akteure, die mit autokratischen Drittländern in Verbindung stehen", die vor nichts halt machten, hätten sich zusammengetan. Es sei von außen versucht worden, NGOs, Gewerkschaften und Mitglieder des Parlaments "als Waffe" einzusetzen, um den demokratischen Prozess zu unterminieren.

Wie berichtet, sollen Emissäre des Emirats Katar hinter den Korruptionsversuchen stecken, die mit wertvollen Geschenken und großen Geldsummen versuchten, ihren Einfluss auf das EP zu erkaufen. Offiziell bestätigt ist das nicht, und die Regierung in Katar wies die Vorwürfe auch auf das Schärfste als "grundlos" zurück. Metsola ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass es sich um Katar handle. Sie verlautbarte, dass der Start von Verhandlungen des Parlaments über Visaerleichterungen mit Katar von der Tagesordnung genommen werde. Und sie sagte auch in Richtung der "bösartigen Mächte" in der Welt: "Wir frieren lieber als uns kaufen zu lassen" – eine deutliche Anspielung auf Gasgeschäfte mit dem Emirat.

Behörden voll unterstützt

Spektakulär war dann, wie tief der Skandal offenbar in die Reihen der Abgeordneten und ihrer Mitarbeiter hineinreicht. Metsola überraschte das Plenum mit der Feststellung, dass "unsere Dienste mit den nationalen polizeilichen Ermittlern und Justizbehörden seit einiger Zeit zusammenarbeiten, um dieses mutmaßliche kriminelle Netzwerk aufzubrechen". Die Präsidentin bedankte sich ausdrücklich für die diskrete Arbeit der Administration. Und sie bestätigte, dass sie persönlich an einer Hausdurchsuchung gegen einen EU-Abgeordneten teilgenommen habe, mit einem Richter, damit alles seine rechtliche Ordnung habe. Das Parlament werde die Untersuchungsbehörden weiterhin umfassend unterstützen. Sie kündigte weitere Untersuchungen an. Bisher habe es Verdachtsmomente vor allem in der Fraktion der Sozialdemokraten (S&D) gegeben.

Aber der Fall sei nicht einer von links und rechts, Nord oder Süd, sondern von rechtens oder unrecht. Noch während die Präsidentin das alles sagte, bestätigte die Staatsanwaltschaft in Brüssel, dass am Parlamentssitz in Brüssel Hausdurchsuchungen im Laufen seien.

Spätestens in diesem Moment war den Abgeordneten klar, dass es zwischen dem Büro der Parlamentspräsidentin, eingeweihten Mitarbeitern und den Korruptionsermittlern ein eng abgestimmtes Vorgehen gibt und gegeben hat. Metsola bestätigte es, ohne es direkt auszusprechen. Es ist bekannt, dass die Behörden in Brüssel bereits im Sommer begonnen haben, die Korruptionsversuche aus Katar zu prüfen. Metsola zog mit, ihre Vizepräsidentin ahnte nichts. (Thomas Mayer, 12.12.2022)