Reporter ohne Grenzen verweist in der Jahresbilanz auf die Schicksale von Niloufar Hamedi und Elahe Mohammadi: Nach ihrer Verhaftung im September sind beide nun wegen "Propaganda gegen das System und Verschwörung gegen die nationale Sicherheit" angeklagt, worauf die Todesstrafe steht.

Foto: APA/AFP/CHRISTINA ASSI

Wien – Die Situation für Journalisten und Journalistinnen wird in vielen Teilen der Welt immer gefährlicher. Das wird in der Jahresbilanz 2022 von Reporter ohne Grenzen deutlich, die am Mittwoch veröffentlicht wurde:

  • Insgesamt 533 Medienschaffende, darunter 78 Frauen, sind laut Reporter ohne Grenzen (RSF) in diesem Jahr aufgrund ihrer Arbeit in Haft. Das entspricht einem Anstieg von 13 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Reporter ohne Grenzen spricht von einer Rekordzahl.
  • Mehr als die Hälfte ist in den Gefängnissen von nur fünf Ländern inhaftiert: China, Myanmar, Iran, Vietnam und Belarus.
  • Auch die Zahl der inhaftierten Journalistinnen ist mit 78 so hoch wie nie zuvor.
  • Im Jahr 2022 kamen 57 Medienschaffende ums Leben, fast 19 Prozent mehr als im Vorjahr. Einer der Gründe für diesen Anstieg ist die russische Invasion in der Ukraine, die in diesem Jahr mit acht getöteten Medienschaffenden das zweitgefährlichste Land weltweit für Medienschaffende wurde.
  • Knapp 80 Prozent aller 2022 getöteten Journalistinnen und Journalisten wurden aufgrund ihrer Arbeit gezielt ermordet.

Mehr als die Hälfte ist in den Gefängnissen von nur fünf Ländern inhaftiert: China, Myanmar, Iran, Vietnam und Belarus. Neu in dieser Gruppe ist der Iran, wo nach dem Ausbruch der landesweiten Proteste derzeit 47 Medienschaffende im Gefängnis sitzen. Auch die Zahl der inhaftierten Journalistinnen ist mit 78 so hoch wie nie zuvor. Im zu Ende gehenden Jahr 2022 sind weltweit zudem mindestens 57 Medienschaffende wegen ihrer Arbeit getötet worden, fast 19 Prozent mehr als im Vorjahr. Einer der Gründe für diesen Anstieg ist der Krieg in der Ukraine, wo acht Medienschaffende starben.

Hier die Details der Jahresbilanz von Reporter ohne Grenzen:

  • 110 Journalistinnen und Journalisten sitzen in China im Gefängnis, so viele wie sonst nirgendwo. Zensur und Überwachung haben dort laut Reporter ohne Grenzen ein extremes Ausmaß angenommen.
  • Gemessen an der Bevölkerungsgröße sind in Myanmar (62) mit Abstand die meisten Journalistinnen und Journalisten inhaftiert. In dem südostasiatischen Land ist Journalismus inzwischen faktisch eine Straftat, wie die große Zahl der nach dem Militärputsch vom Februar 2021 verbotenen Medien zeigt.
  • In Vietnam (39) hat sich die Zahl der inhaftierten Medienschaffenden innerhalb von fünf Jahren verdoppelt. In Belarus zählte RSF in den vergangenen zwei Jahren mehr als 500 Festnahmen, 31 Medienschaffende sitzen immer noch hinter Gittern.
  • Hartes Durchgreifen beobachtet Reporter ohne Grenzen auch in Russland seit dem Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022. Die meisten der im Land verbliebenen Medienschaffenden seien gezwungen, angesichts der drakonischen Strafen im Untergrund zu arbeiten: Würden sie "falsche Informationen" über die russische Armee verbreiten, drohten ihnen bis zu 15 Jahre Gefängnis. Mindestens 18 Medienschaffende seien derzeit inhaftiert, darunter auch acht aus der Ukraine.

Gleichfalls alarmierend sind die fehlenden rechtsstaatlichen Begründungen, mit denen die meisten Medienschaffenden inhaftiert sind: Nur etwas mehr als ein Drittel weltweit wurde demnach auch verurteilt. Knapp 64 Prozent sitzen ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis; manche von ihnen warten seit mehr als 20 Jahren auf ihren Prozess.

Rekordhoch bei inhaftierten Journalistinnen

Ebenfalls gestiegen ist die Zahl der inhaftierten Journalistinnen 2022.

  • Derzeit sitzen mindestens 78 Journalistinnen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit im Gefängnis. Das sind rund 28 Prozent mehr als zum gleichen Zeitpunkt im vergangenen Jahr.
  • Mehr als 70 Prozent der inhaftierten Journalistinnen sitzen in vier Ländern im Gefängnis, die auf der Rangliste der Pressefreiheit die unteren Plätze belegen: In China (Rang 175) sind 19 weibliche Medienschaffende in Haft, im Iran (Rang 178) 18, in Myanmar (Rang 176) zehn, in Belarus (Rang 153) neun.

Prominente Fälle sind etwa die chinesische Journalistin Zhang Zhan und die vietnamesische Journalistin Pham Doan Trang, die am 14. Dezember 2021 wegen "Propaganda gegen den Staat" zu neun Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

Im Iran zeigt die hohe Zahl der inhaftierten Journalistinnen, dass die Behörden Frauen systematisch zum Schweigen bringen wollen. Reporter ohne Grenzen verweist in diesem Zusammenhang auf die Schicksale von Niloufar Hamedi und Elahe Mohammadi. Nach ihrer Verhaftung im September sind beide nun wegen "Propaganda gegen das System und Verschwörung gegen die nationale Sicherheit" angeklagt, worauf die Todesstrafe steht.

Getötete Medienschaffende

Wie gefährlich der Beruf der Medienschaffenden in manchen Gebieten der Welt ist, zeigt die Bilanz auch bei den getöteten Journalistinnen und Journalisten: Im Jahr 2022 kamen 57 Medienschaffende ums Leben, fast 19 Prozent mehr als im Vorjahr. Mitverantwortlich dafür ist der Krieg in der Ukraine, die in diesem Jahr mit acht getöteten Medienschaffenden das zweitgefährlichste Land weltweit für Medienschaffende wurde.

Prominente Fälle sind der ukrainische Fotograf Maxim Lewin, der nach Erkenntnissen von RSF am 13. März gezielt von russischen Soldaten erschossen wurde, und der französische Videoreporter Frédéric Leclerc-Imhoff, der auf dem Weg zu Dreharbeiten in der Ostukraine durch einen Granatsplitter getötet wurde.

Mit fast 65 Prozent kam die Mehrzahl der 2022 getöteten Journalistinnen und Journalisten jedoch außerhalb von Kriegsgebieten ums Leben. Auch ihr Anteil ist gestiegen. Allein in Mexiko wurden mindestens elf Journalistinnen und Journalisten ermordet. Der amerikanische Doppelkontinent war die gefährlichste Region für Journalistinnen und Journalisten: Fast die Hälfte aller getöteten Medienschaffenden kam dort ums Leben.

Knapp 80 Prozent aller 2022 getöteten Journalistinnen und Journalisten wurden aufgrund ihrer Arbeit gezielt ermordet. Besonders gefährlich waren, wie schon in den Vorjahren, Recherchen zu den Themen organisiertes Verbrechen und Korruption.

Wegen ihrer Arbeit entführt und verschwunden

Weltweit gelten derzeit mindestens 65 Medienschaffende als entführt, so viele wie im vergangenen Jahr. Nahezu alle Fälle konzentrieren sich wie 2021 auf drei Länder des Nahen Ostens: auf Syrien (42 Medienschaffende entführt), Irak (elf) und den Jemen (elf). Die Ausnahme bildet der französische Journalist Olivier Dubois, der 2021 in Mali entführt wurde.

Zwei Journalisten wurden 2022 als vermisst gemeldet. Dmitro Khyliuk, Journalist für die ukrainische Nachrichtenagentur UNIAN, wurde zuletzt am 4. März in Dymer gesehen, einem zu dieser Zeit von Russland besetzten Dorf 45 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Nach RSF-Informationen wurde er in der Folge nach Russland gebracht. Der mexikanische Journalist Roberto Carlos Flores Mendoza, Redakteur der Webseite Chiapas Denuncia Ya, wurde zuletzt am 20. September 2022 gesehen. Mit den beiden neuen Fällen steigt die Zahl der seit 2003 von RSF registrierten vermissten Journalistinnen und Journalisten auf 49.

Dramatische Einzelschicksale: Hongkong, Russland – und Julian Assange

In der Jahresbilanz der Pressefreiheit blickt RSF auch auf besonders dramatische Einzelschicksale:

  • Dem Journalisten Jimmy Lai, Gründer der 2020 von den Behörden geschlossenen Hongkonger Tageszeitung "Apple Daily", und sechs seiner Mitarbeitenden droht unter dem drakonischen "Sicherheitsgesetz" eine lebenslange Haftstrafe.
  • Dem Wikileaks-Gründer Julian Assange droht die höchste Strafe von allen, die 2022 im Zusammenhang mit Journalismus angeklagt sind – bis zu 175 Jahre Gefängnis, sollte er aus Großbritannien an die USA ausgeliefert werden.
  • Der russische Investigativjournalist Iwan Safronow wurde zu 22 Jahren Haft verurteilt, weil er "Staatsgeheimnisse" offengelegt haben soll, obwohl diese bereits zuvor online verfügbar waren. In Kamerun muss der seit 2016 inhaftierte und gesundheitlich angeschlagene Journalist Amadou Vamoulké zahlreiche Gerichtsverfahren ertragen, ohne dass jemals Beweise gegen ihn vorgelegt wurden. (red, 14.12.2022)