Ein Kind spielt bis zum sechsten Lebensjahr im Durchschnitt bis zu 15.000 Stunden. Spielen ist demnach neben Essen und Schlafen ihre Hauptbeschäftigung.

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STANDARD: Das Kind wünscht sich den gigantischen Dinosaurier, der schießen kann. Laseraugen hat er auch. Die Eltern finden das gar nicht gut. Lieber würden sie eine Holzeisenbahn schenken. Pädagogisch viel wertvoller. Oder?

Mehringer: Wir haben oft ein sehr einseitiges Verständnis von dem Begriff "pädagogisch wertvoll". Ich denke, pädagogisch wertvoll ist ein Spielzeug meist dann, wenn ein Kind begeistert damit spielt. Kinder wissen intuitiv sehr gut, was sie interessiert und herausfordert. Spielen kann Kinder in ihrer Entwicklung wahnsinnig fördern. Für uns Erwachsene ist wichtig zu sehen, dass Spielen für die Kinder nicht nur ein Zeitvertreib ist, der Spaß macht, sondern auch ganz viele Bildungsmomente beinhaltet. Das kann auch ein Stock sein, der sich in ein Pferd verwandelt, oder eine Decke, die man über den Tisch legt – und die Kinder verkriechen sich in einer Höhle. Diese Spiele haben kein Label, und dennoch sind sie pädagogisch wertvoll.

Volker Mehringer (43) ist Erziehungswissenschafter und Vater von zwei Kindern. Aktuell forscht er an der Universität Augsburg zum Thema Spielen.
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STANDARD: Das heißt, es gibt kein gutes oder schlechtes Spielzeug. Auch das Glitzer-Einhorn aus Plastik hat seine Berechtigung?

Mehringer: Ja, auch ein Glitzer-Einhorn kann zu gutem Spielen führen. Schlecht ist ein Spielzeug vor allem dann, wenn nicht damit gespielt wird. Ob das nun aus Holz oder Plastik ist, ist dem Kind in der Regel nicht so wichtig. Gerade die Nachhaltigkeit oder der ökologische Aspekt von Spielmaterialien interessiert meist nur die Erwachsenen.

STANDARD: Holzspielzeug wird aber auch nicht immer umweltbewusst gefertigt. Und es kann auch Schadstoffe beinhalten ...

Mehringer: Deswegen finde ich es nicht gut, wenn man eine Art von Spielzeug per se verteufelt. Auch aus Plastik können sichere und sehr langlebige Spielzeuge hergestellt werden. Lego ist der beste Beweis dafür.

STANDARD: Nun können Eltern im Vorfeld nicht wissen, ob ihr Kind mit dem gekauften Spielzeug wirklich spielen wird. Gibt es Kriterien, auf die Eltern bei der Auswahl achten sollten?

Mehringer: Ein Kriterium ist die Sicherheit. Es sollte frei von Schadstoffen sein. Kleinteile, die vielleicht abgehen und verschluckt werden können, sind auch einer von zahlreichen Sicherheitsaspekten. Ansonsten ist auch die Funktionalität ein wichtiges Kriterium. Jedes Spielzeug stellt eine Spielfunktion in Aussicht. Wenn sich etwa ein ferngesteuertes Auto nicht gut lenken lässt oder die Batterien schon nach wenigen Minuten aufbraucht, ist das höchst frustrierend. Die Wahrscheinlichkeit, dass es nur kurz bespielt wird, ist dann sehr hoch. Dies im Vorfeld zu testen ist gerade dann schwierig, wenn Spielzeug online bestellt wird.

STANDARD: Gibt es Klassiker, die immer gut und gerne bespielt werden?

Mehringer: Aus der Forschung wissen wir, dass offenes und thematisch nicht zu einseitig festgelegtes Spielzeug zu einer längeren Spieldauer und einer vielseitigen Nutzung führen kann. Ein gutes Beispiel dafür sind Kapla-Steine. Die auf den ersten Blick vielleicht etwas langweiligen, braunen Holzbausteine können zu hohen Bauwerken gestapelt werden, man kann Brücken bauen – oder die Kinder kombinieren sie mit anderen Spielmaterialien. Lego kann auch stundenlang bespielt werden – nicht nur von Kindern übrigens, auch viele Erwachsene spielen noch gerne Lego.

STANDARD: Was ist mit anderen Klassikern wie Memory?

Mehringer: Memory ist Memory, damit kann man nicht viel mehr machen. Dennoch ist es ein super Spiel. Sie sehen, wenn man Kriterien für ein Spielzeug erfragt, muss man auch immer nach der Art des Spielzeugs fragen.

STANDARD: In Deutschland gibt es den Verein Spiel gut, der Spielzeug bewertet. Sie selbst sind auch Mitglied. Nach welchen Kriterien wird denn dort beurteilt?

Mehringer: Meist bekommen wir das Spielzeug von den Herstellern, wir lassen es dann von Familien über einen längeren Zeitraum testen. Die Familie muss in der Testzeit auch Bewertungsbögen ausfüllen. Diese werten dann unterschiedliche Experten und Expertinnen aus und überprüfen das Spielzeug. Die fachliche Begutachtung und der Erfahrungsbericht führen entweder zum orangen Spiel-gut-Siegel oder eben nicht.

STANDARD: Holzeisenbahnen sind seit Jahrzehnten beliebt. Mit den Paw-Patrol-Figuren spielt wahrscheinlich in zehn Jahren keiner mehr. War das Spielzeug früher besser?

Mehringer: Die Grundformen von Spielzeug können wir schon lange zurückverfolgen. Sogar in der Antike gab es zum Beispiel Kreisel oder Bälle. Seit den Siebzigern wurden Lizenzen aus Film und Fernsehen an Spielzeughersteller verkauft. Die sind irgendwann nicht mehr angesagt, das stimmt. Der Paw-Patrol-Hund ist dennoch eine Spielfigur, die es schon immer gab. Selbst Computerspiele, die eine große Spielinnovation darstellen, sind im Grunde Regel- oder Gesellschaftsspiele und fördern zum Beispiel soziale Interaktion, Aufmerksamkeit oder Taktik.

"Ein Junge, der schief angesehen wird, weil er mit dem Puppenwagen durch die Gegend fährt, lässt ihn beim nächsten Mal womöglich stehen."

STANDARD: Für Mädchen die Puppen, für Jungs die Bagger. So wird es einem zumindest in der Werbung für Spielzeug angetragen. Ab welchem Alter spielen Kinder geschlechtsspezifisch?

Mehringer: Im Kleinkindalter gibt es noch keine wesentlichen Unterschiede. Sowohl Mädchen als auch Jungen fühlen sich zu Rot und zu weichen und runden Formen hingezogen. Die Vorlieben für Spielzeug werden in weiterer Folge vor allem gesellschaftlich angeeignet. Hier spielen auch Grenzen und Reaktionen von Erwachsenen eine große Rolle. Ein Junge, der schief angesehen wird, weil er mit dem Puppenwagen durch die Gegend fährt, lässt ihn beim nächsten Mal womöglich stehen.

STANDARD: Wenn Mädchen mit Autos spielen, dann finden es Erwachsene aber cool.

Mehringer: Absolut! Bei Mädchen können wir hier eine Öffnung beobachten. Es ist sozial anerkannt, wenn sie Fußball spielen oder sich einen Baukasten wünschen. Das wird auch von den Bezugspersonen bewusst angeschoben. Bei den Jungs hingegen können wir keine vergleichbare Öffnung sehen.

STANDARD: Das heißt, für Jungs gibt es somit auch viel weniger Auswahl.

Mehringer: Und das ist schade, denn jedes Spielzeug fördert andere Kompetenzen. Wenn ein Kind nur einseitig spielt, dann bleiben gewisse Bereiche auf der Strecke.

STANDARD: Sollten Eltern da aktiv gegensteuern und dem kleinen Jungen mit Absicht einmal eine Puppe kaufen?

Mehringer: Ich denke, es ist grundsätzlich spannend, Impulse zu setzen. Eltern sollten beobachten: Was spielt mein Kind gern? Mit welchem Spielzeug spielt es viel? Gibt es Bereiche, in denen es sich noch nicht so viel zutraut oder zögerlich ist? Dem Sohn eine Puppe kaufen kann super funktionieren, aber auch nach hinten losgehen.

STANDARD: Weil der Sohn dann schiefe Blicke oder Kommentare erntet?

Mehringer: Das kann natürlich passieren. Hier sind die Eltern gefragt, die das Kind im Vorfeld aufklären und ermutigen. Wenn der Junge Spaß am Spiel mit der Puppe hat, dann gibt es keinen Grund dafür, sich zu schämen.

STANDARD: Wie wichtig ist es denn, dass Spielzeug divers ist?

Mehringer: Spielen ermöglicht Kindern, Alltagserfahrungen nachzuerleben. Wenn es etwa keine Oma und keinen Opa fürs Puppenhaus gibt, dann können Kinder unter anderem auch keine realen Szenen aus ihrem Leben nachspielen. Und glauben Sie mir: Es ist wirklich schwierig, in der Spielzeugwelt alte Menschen zu finden. Selbiges gilt für Puppen mit diversen Hautfarben. Spielzeug ist auch eine gewisse Identifikationsfläche – eine Repräsentation von mir. Je diverser Spielzeug gestaltet ist, desto breiter ist die Spielmöglichkeit. Vor kurzem haben meine Kinder ein Lego-Set geschenkt bekommen. Da war ein Rollstuhlfahrer dabei, der in einer Halfpipe fährt. Die Kinder waren total begeistert davon und haben viel danach gefragt.

STANDARD: Was, wenn sich das Kind immer das Gleiche wünscht? Immer nur Autos oder Lego. Die 37. Barbie?

Mehringer: Wenn die Spielbegeisterung für dieses eine Spielzeug noch immer da ist, warum nicht? Davon lebt das Spielen ja – wenn Kinder Raum und Zeit vergessen und über Stunden in eine Spieltätigkeit versinken. Impulse in eine andere Richtung kann man dennoch setzen. Da reicht es aber nicht immer aus, einfach ein neues Spielzeug zu kaufen. Kinder sehen eventuell noch nicht den Reiz in diesem neuen Spielzeug. Da ist man teilweise als Vater oder Mutter gefragt, wie man es dem Kind schmackhaft macht. Ich rate immer, sich als Erwachsener einfach mal selbst hinzusetzen und damit zu spielen. Da kann schnell ein Funke überspringen, und die Kinder spielen in weiterer Folge selbstständig damit.

STANDARD: Was, wenn sich das Kind zu Weihnachten etwas wünscht, das ich als Mutter oder Vater aber nicht gut finde. Sollen Eltern ihren Prinzipien dennoch treu bleiben und damit riskieren, dass es unterm Christbaum Tränen gibt?

"Die Spielzeugauswahl ist Teil der Erziehung, da dürfen Eltern natürlich auch Grenzen setzen."

Mehringer: Die Spielzeugauswahl ist Teil der Erziehung, da dürfen Eltern natürlich auch Grenzen setzen. Auf der anderen Seite sollte man den Spielzeugwunsch von Kindern nicht unterschätzen. Der bedeutet in der Regel, dass das Kind ein gewisses Interesse dafür hat. Gerade zu Weihnachten geht es darum, Freude zu schenken, da spielt das Erfüllen eines Wunsches eine große Rolle. Wenn ein Spielzeug absolutes Tabu ist, sollten Eltern schon beim Wunschzettelschreiben mit den Kindern darüber sprechen. Als Erwachsener kann man erläutern, warum man etwa die Spielzeugpistole oder die blonde Barbie im Minirock doof findet. Sogar kleine Kinder verstehen solche Argumente oft sehr gut. Umgekehrt darf man sich aber auch von den Kindern überzeugen lassen. Die haben meist ganz konkrete Vorstellungen, wie und was sie damit spielen wollen.

STANDARD: Ein gängiger Vorwurf: Kinder heute haben zu viel Spielzeug. Stimmt das?

Mehringer: Ich höre diese Klage oft von Großeltern und Eltern. Und im nächsten Satz die Sorge, dass viel Spielzeug Kinder überfordert. Interessanterweise gibt es gar keine eindeutigen wissenschaftlichen Belege dafür. Warum sollte denn ein Kind von viel Spielzeug überfordert sein? Stellen Sie sich vor, Sie kommen zu jemandem nach Hause und der hat tausende Bücher daheim. Sie würden wahrscheinlich sagen: "Mensch, toll, eine belesene Person!" Spielzeug ist in gewisser Weise auch ein Bildungsmedium.

STANDARD: Und dennoch beobachte ich viele Kinder in meinem Umkreis, die mit der Hälfte ihres Spielzeugs nicht spielen ...

Mehringer: Das hat aber oft damit zu tun, dass Familien Spielzeug behalten, obwohl die Kinder schon rausgewachsen sind. Kinder suchen sich immer wieder eine neue Herausforderung. Haben sie lange genug mit einer Sache gespielt und sind in ihrer Spielentwicklung weiter vorangeschritten, wird sie ihnen langweilig. Oder die Kinder haben zu viel vom gleichen Spielzeug. Das hundertste Rennauto hat vielleicht nicht mehr so einen Spielreiz. Deswegen ist es sinnvoll, Spielzeug immer wieder auszusortieren und es zu verkaufen oder zu verschenken.

STANDARD: Ist Spielzeug zeitweise wegzuräumen ein guter Tipp, um es wieder spannend zu machen?

Mehringer: Es gibt Kindergärten, die das gesamte Spielzeug sogar über mehrere Wochen und Monate wegräumen. Die Vorfreude der Kinder auf das Spielzeug ist nach dieser Zeit dann oft wieder groß. Außerdem spielen die Kinder oft wieder bewusster damit. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass auch Dinge von ganz unten aus der Box hervorgekramt werden, die die Kinder schon vergessen haben.

STANDARD: Zurück zu Weihnachten: Oma und Opa haben wieder mehr Geschenke besorgt als vereinbart. Die Kinder reißen alle Päckchen sofort auf und spielen dann mit keinem. Doch alles zu viel?

Mehringer: Ich finde es gut, wenn man im Vorfeld klärt, wer was schenkt. Allerdings ist Weihnachten ein Ausnahmezustand. Es ist völlig normal, wenn Kinder alle Geschenke auf einmal aufreißen. Ich nenne das den "Bescherungseffekt". Die Zeit, in der das Kind mit seinen Geschenken spielt, kommt in den Tagen und Wochen danach. Da sollten sich Eltern keinen Kopf machen. (Nadja Kupsa, 16.12.2022)