Weil aktuell mehrere Atemwegsviren parallel zirkulieren, sind gerade besonders viele Menschen krank. Mit einem beeinträchtigten Immunsystem hat das eher wenig zu tun.

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Influenza, Sars-CoV-2, saisonale Coronaviren, RSV, Rhino- und Adenoviren – die Erreger diverser Infektionen der Atemwege stapeln sich aktuell geradezu. In einem Wiener Krankenhaus wurde ein Patient behandelt, bei dem sogar fünf Viren gleichzeitig festgestellt wurden. Und auch in Büros und Familien wird so viel geniest und gehustet wie schon lange nicht mehr. Das spiegelt sich auch in den Statistiken zu Grippe und grippalen Infekten wider. Seit Wochen geht die Kurve fast schon senkrecht nach oben, allein in Wien wurden in der vergangenen Woche über 25.000 Neuinfektionen gemeldet.

Der Grund für diese hohen Zahlen ist, dass aktuell, neben anderen Virusinfektionen, massive Influenza- und RSV-Wellen parallel stattfinden, erklärt Virologe Lukas Weseslindtner von der Med-Uni Wien. Bei beiden Wellen sind übrigens die kleinen Kinder die Treiber, in der Altersgruppe von null bis vier Jahren ist die Inzidenz mit großen Abstand am höchsten. Und vor allem RSV, das respiratorische Synzytial-Virus, sorgt aktuell für überfüllte Kinderstationen in den Krankenhäusern quer durch Österreich.

Warum diese Wellen gerade jetzt zusammentreffen und zu so einer massiven Infektionswelle führen, weiß man nicht so genau. Vielfach hört man das Argument, dass durch die Lockdowns und Abstandsmaßnahmen der vergangenen Jahre ein gewisser "Rückstau" an Infektionen aufgebaut wurde, es sei eine Art "Immunschuld" entstanden, die jetzt quasi abgearbeitet wird. Aber dieser Argumentation kann Weseslindtner wenig abgewinnen.

Keine Folge der Corona-Maßnahmen

"Es gibt eine Vielzahl an Gründen dafür, dass diese Wellen jetzt parallel laufen, aus wissenschaftlicher Sicht ist es kaum haltbar, dass die Covid-19-Schutzmaßnahmen dafür verantwortlich sind." So habe es etwa schon vor der Pandemie immer wieder sehr starke Influenzawellen gegeben, zuletzt in den Saisonen 2016/17 und 2017/18. Und auch wenn üblicherweise der Höhepunkt der Influenzawelle erst im Jänner sei, gab es immer wieder Jahre, in denen die Zahlen bereits im November in die Höhe schnellten. "Ja, es gibt viele Infektionen, aber wir können derzeit noch nicht sicher sagen, ob es ein Influenzarekordjahr wird", sagt Weseslindtner. Und er rät dringend zur Impfung, auch für Kinder. "Wären alle Kinder geimpft, würde das die Welle deutlich dämpfen. Hier besteht noch viel Luft nach oben."

Auch die hohen Zahlen an RSV-Infektionen kann man nicht durch die Corona-Schutzmaßnahmen erklären. Weseslindtner: "Es gab auch vergangenes Jahr eine hohe RSV-Welle, bereits etwas früher. Die ist mit den Maßnahmen im Herbst 2021 dann aber wieder zusammengefallen." Das kann tatsächlich dazu geführt haben, dass es dieses Jahr mehr Erstinfizierte unter den Kindern gibt, weil in den letzten Geburtenjahrgängen weniger Kinder Viruskontakt hatten und es deshalb jetzt noch viel immunnaive Kinder gibt.

Aber das ist eher positiv zu sehen: "Je später ein Kind das erste Mal mit RSV in Kontakt kommt, desto besser. Das Virus kann nämlich besonders für die ganz Kleinen, unter einem Jahr, gefährlich werden, weil virusinfizierte Zellen zu großen Konglomeraten verklumpen, die dann sozusagen die Atemwege verstopfen. Weil diese bei den ganz kleinen Kindern noch so eng sind, können sie dann zu wenig Sauerstoff bekommen."

Mit der RSV-Welle steht Österreich auch nicht allein da, das Virus ist derzeit in der gesamten nördlichen Hemisphäre aktiv. Dass das nicht ausschließlich mit Schutzmaßnahmen oder Lockdowns zu tun haben muss, zeigt auch, dass Länder, die Schulen und Kindergärten eher offen gehalten haben, wie zum Beispiel Schweden, aktuell ähnlich hohe RSV-Fallzahlen haben wie Österreich.

Falsche Vorstellung von "Immunschuld"

Immer wieder hört man im Zusammenhang mit den aktuellen Infektionen auch das Argument der "Immunschuld": Durch die Schutzmaßnahmen der vergangenen Jahre sei das Immunsystem anfälliger für Infektionen geworden. Doch das sieht Weseslindtner ganz anders: "Das ist ein sehr irreführender Ausdruck, er suggeriert, dass man wie auf ein Konto eine gewisse Anzahl an Infektionen einzahlen muss. Zahlt man nicht genug ein, dann ist die Immunität schlecht. Aber das stimmt nicht, das Immunsystem funktioniert immer mehr oder weniger gleich gut."

Es sei viel relevanter, mit welchem Erreger man in Kontakt kommt. Ein gutes Beispiel dafür sei die Influenza: "Dieses Virus mutiert so schnell, dass jedes Jahr ein angepasster Impfstoff nötig ist. Das heißt, die Immunität durch Infektion mit einem Subtyp schützt nur bedingt vor Infektion mit einem anderen Subtyp." Auch bei Rhino- und Adenoviren, die Infektionen der Atemwege hervorrufen, kursiert eine Vielzahl an genetischen Varianten. Man kann sich also schon unmittelbar nach einer Rhinovirusinfektion mit einem anderen Rhinovirus anstecken.

Generell hält eine Immunität gegen respiratorische Viren im Vergleich zu anderen systemischen Virusinfektionen, wie etwa Masern oder Hepatitis, nur relativ kurz an. Zur Erklärung: Bei Kontakt mit einem Erkältungsvirus werden die B-Zellen des Immunsystems aktiviert, die die Antikörper produzieren. Die Antikörper dienen als "Abwehrschirm" gegen dieses Erkältungsvirus und sollen neue Infektionen mit demselben Erreger verhindern.

Durch die Infektion bilden sich aber auch T-Gedächtniszellen, die bei einer erneuten Infektion die Virusvermehrung schneller eindämmen als bei der Primärinfektion. Trotzdem dauert dieses Eindämmen eine gewisse Zeit – und es kommt zu einer Art Wettrennen zwischen dem Virus und den Gedächtniszellen, wie stark sich das Virus vermehren kann und wie intensiv man Symptome spürt. Wenn man in kurzer Zeit öfter mit demselben Erkältungsvirus in Kontakt kommt, werden die Symptome bei neuerlichen Infektionen schwächer.

Keine Infektion empfehlenswert

Die T-Gedächtniszellen sind aber nur gegen ein ganz bestimmtes Erkältungsvirus gerichtet und wirken nicht universell. "Also ja, es kann schon sein, dass durch die ausgebliebenen Erkältungen der vergangenen Jahre die Symptome bei einer neuerlichen Infektion mit einem Virus, das dem Immunsystem an sich bekannt ist, stärker ausgeprägt sind. Das ist aber keine Schwächung des Immunsystems, seine grundsätzliche Funktion bleibt aufrecht", erklärt Weseslindtner.

Ausreichend Beweise für eine direkte Schwächung des Immunsystems durch eine frühere Sars-CoV-2-Infektion, wie sie aktuell auch von einigen diskutiert wird, sieht der Virologe übrigens nicht: "Bei den Masern zum Beispiel wissen wir sehr genau, dass es so etwas gibt. Bei Sars-CoV-2 steht diese Theorie derzeit wissenschaftlich noch auf sehr dünnen Beinen. Das heißt nicht, dass da keine Erkenntnisse mehr kommen können, aber aktuell sehen wir nicht, dass Personen mit einer zurückliegenden Sars-CoV-2 häufiger an respiratorischen Infekten erkranken als Personen, die noch kein Corona hatten."

Trotzdem sei es aus virologischer Sicht nie gut, eine Virusinfektion zu bekommen, betont der Experte: "Als Virologe sehe ich, was so eine Infektion alles mit den Schleimhäuten und dem Körper machen kann, welche Komplikationen dabei entstehen können. Das ist kein Spaziergang für den Körper." Es sei zwar ein positiver Effekt, dass man nach durchgestandener Infektion Immunität ausbildet, aber wenn ein Baby mit RSV-Infektion und Atemnot stationär aufgenommen werden muss, sei das in etwa so, wie wenn man mit dem Auto gegen die Wand fahre und dann sage, super, jetzt muss ich die Reifen nicht mehr wechseln.

Das Tragen von FFP2-Masken ist in der aktuellen Situation eine sehr gute Methode, um das individuelle Infektionsrisiko zu reduzieren, rät Weseslindtner. Und besonders vor der Influenza kann man sich durch die Impfung schützen: "Wer jetzt noch nicht impfen war, sollte das so bald wie möglich nachholen. Das würde die Auswirkungen der Influenzawelle am besten mindern." (Pia Kruckenhauser, 15.12.2022)