"Mi dispiace", sagt Chavez, der Zugbegleiter für meinen Schlafwagen im ersten Nightjet von Wien nach Genua – einer Premierenfahrt, zu der die ÖBB einlud. "Dammi dieci minuti, per favore." Chavez stammt aus Mexiko, spricht also Spanisch, aber auch Italienisch, Französisch, Englisch und Deutsch. Auf Italienisch fühle er sich sicherer, sagt er.
Eventuell spricht Chavez aber auch nur deshalb Italienisch mit mir, weil er meint, dass er so meinen geplanten Aufenthalt in Italien um die etwa 14,5 Stunden lange Zugreise verlängert. Chavez ist in meinem Abteil, um einen Fehler zu beheben: In meinem Schlafwagen kam aus der Dusche, die auch der Wasserhahn für das Handwaschbecken ist, kein Tropfen. Drei Minuten braucht die Behebung. Noch bevor der Zug abfährt und nachdem ich meinen Schlafwagen bezogen habe, kann ich mir wieder die Hände waschen.
Nostalgiebahn
Der Schlafwagen versprüht fast den Charme eines Nostalgiezuges. Dass er wie ich schon auf den 50er zugeht und jahrelang für die Deutsche Bahn im Dienst war, bevor ihn die ÖBB übernommen und modernisiert hat, sieht man ihm nicht an.
"Das ist auffällig", sagt Klaus Garstenauer, Vorstand der ÖBB Personenverkehr AG, "dass nach den meisten Beschwerden, die bei uns einlangen, ein Lob für das Zugpersonal folgt." Er selbst hat, ebenfalls viel zu früh auf dem Bahnsteig, als er sich noch unbeobachtet fühlte, einer alten Dame den schweren Koffer in den Zug nach Graz gehoben. Da waren weder Ministerin Leonore Gewessler (Grüne) und ÖBB-CEO Andreas Matthä noch der italienische Botschafter in Österreich, Stefano Beltrame, anwesend, um den ersten Nightjet, der am 11. Dezember bis nach Genua und weiter nach La Spezia fuhr, feierlich zu verabschieden. Dass in einiger Entfernung ein beobachtender Journalist stand, konnte er da noch nicht wissen – wir wurden einander erst später vorgestellt.
Beschwerden gibt es meist wegen Verspätungen, erzählt Garstenauer. Und die betreffen vor allem Nightjets, weil es im grenzübergreifenden Zugverkehr jede Menge Stolpersteine gibt. So müssen etwa an der Grenze ein Teil des Zugpersonals und die Lok getauscht werden, weil die unterschiedlichen Systeme unterschiedliche Anforderungen mit sich bringen. Und eine Premierenfahrt birgt weitere Hindernisse. Was aber, wenn der neue Zug in der Routine eines Bahnbediensteten übersehen wird? Doch die Nervosität hält sich in Grenzen.
Nicht so der Rummel um den Zug. Landespolitiker lassen sich bei Stopps in der Steiermark und in Kärnten neben dem Nightjet ablichten. Eisige Temperaturen und die Ankunft mitten in der Nacht sind da keine gültige Ausrede.
Eisenbahnfahren wird wieder modern
"Der Zug, und vor allem der Nachtzug, erlebt eine Renaissance", sagt Kurt Bauer, Leiter des Fernverkehrs bei der ÖBB, weil umweltfreundliches Reisen wieder mehr in den Fokus rückt. Eine derartige, dass viele der 20 Nightjet- und neun Euronight-Linien schon Wochen vor der Abfahrt ausgebucht sind.
Aufstocken gehe im Moment auch schwer, da das gesamte Rollmaterial im Einsatz sei, weshalb man sich – wohl nicht nur bei der ÖBB – auf die neuen Garnituren freue, die im Herbst 2023 in Betrieb gehen werden. Darum konnten heuer mit dem Fahrplanwechsel auch keine neuen Linien aufgenommen werden, wohl aber zwei Strecken verlängert: die nach München bis Stuttgart und eben jene von Wien nach Mailand bis nach Genua und La Spezia. Letztere Verlängerung hat besondere Bedeutung.
Die große Liebe
Gar von einer "storia d’amore", einer Liebesbeziehung zwischen Österreich und Norditalien, spricht Clemens Mantl, Österreichs Generalkonsul in Mailand. Dabei gehe es nicht nur darum, dass Italien seit Jahren zu den beliebtesten Urlaubsdestinationen für Menschen aus Österreich zähle. 2,5 Millionen von ihnen machen in Italien Urlaub, 2,7 Millionen Menschen besteigen in der Region ein Kreuzfahrtschiff. Die Nachfrage nach dem Zug dürfte dementsprechend groß sein. Aber auch die Handelsbeziehungen zwischen Norditalien und Österreich seien sehr eng – nur die zu Deutschland seien noch enger, erklärt Mantl.
So wird es dann auch nicht sein, dass Touristen nach Genua und Geschäftstreibende nach Wien fahren, ist Herwig Kolzer, Marketingchef des Österreich Tourismus für Spanien und Italien, überzeugt. Obwohl er Mantl recht gibt, wenn dieser sagt, dass "Slow Food und Slow Travelling" schon sehr gut zusammenpassen würden. Auch bei Reisenden aus Italien merke man, dass die Kulinarik immer öfter Grund für den Besuch in Österreich sei – aber halt doch weit abgeschlagen hinter Kultur und der Stadtreise.
So wie ich werden sich nun also täglich Touristen und Geschäftsleute vom Taurus in die eine oder andere Richtung in den Schlaf schaukeln lassen. Was für eine herrliche Erfahrung! Bis ich gegen sechs Uhr das erste Mal munter werde und aus dem Fenster schaue. Blitze erhellen die Dunkelheit. Der Grund dafür sind Lichtbögen, die bei vereisten Oberleitungen entstehen – und die sind im italienischen Bahnverkehr wegen des anderen Stromnetzes ein größeres Problem als in Österreich. Eine Verspätung in Genua ist vorprogrammiert.
"Wenn wir die Nightjets einrechnen", sagt Gartenauer, "sind etwa 15 bis 16 Prozent der Fernverkehrszüge verspätet." Im Regionalverkehr sind es maximal vier Prozent. Urlaubsreisenden mache das für gewöhnlich nicht viel aus. Geschäftsreisende mit ihren enggetakteten Terminen sehen das mitunter anders. Aber das könnte in Italien durchaus anders sein. Denn wir kommen tatsächlich rund eine halbe Stunde zu spät in Genua an. Zum Glück für die anwesende Presse. Denn der Regierungsgesandte, der den Zug empfangen soll, ist selbst erst vor wenigen Minuten vor den TV-Kameras aufgetaucht.
An Chavez geht der Empfangstrubel vorüber. Er verabschiedet sich mit einem "Ciao" und richtet sich für ein paar Stunden Schlaf, bevor er am Abend wieder seinen Dienst im Zug zurück nach Wien beginnt. (Guido Gluschitsch, 15.12.2022)