Als Rom nach fast 400-jähriger Herrschaft rund um 440 Britannien endgültig den Rücken kehrte, befanden sich viele der von den Römern geschaffenen Strukturen bereits im Niedergang. Der größte Teil der Bevölkerung wandte sich für die Selbstversorgung der Subsistenzlandwirtschaft zu, das Verwaltungssystem Britanniens zerfiel in eine Reihe lokaler Lehnsgüter. Die folgenden Jahrhunderte, in der heidnische und christliche Traditionen allmählich miteinander verschmolzen, sind heute als das "dunkle Zeitalter" der englischen Geschichte bekannt.

Nun haben Archäologinnen und Archäologen einen nahe Northampton rund 100 Kilometer nördlich von London entdeckten Schatz vorgestellt, der illustriert, welche Machtpositionen Frauen in der jungen englischen Kirche innehatten. Die Artefakte stammen aus einem rund 1.300 Jahre alten Grab und werden von den Forschenden zu den bedeutendsten Funden dieser Zeit gezählt.

Links die gereinigte Goldkette, rechts eine Rekonstruktion ihres ursprünglichen Zustandes.
Foto: MOLA/Hugh Gatt

Glücksfund am vorletzten Tag

Der 11. April 2022 war der vorletzte Tag einer achtwöchigen Grabungskampagne im Ortsgebiet des kleinen Dorfes Harpole. Als der Archäologe Levente-Bence Balázs in der Erde auf zwei Zähne stieß, die auf eine Grabstätte hinzudeuten schienen, war die Freude groß – doch es sollte noch viel besser kommen: "Dann tauchten zwei goldene Gegenstände auf", berichtete Balázs im "Guardian", und es stellte sich heraus, dass man es hier mit etwas wirklich Bedeutendem zu tun hatte.

"Diese Artefakte haben seit 1.300 Jahren kein Tageslicht gesehen. Das Gefühl, der erste Mensch zu sein, der sie wieder zu sehen bekam, ist unbeschreiblich", sagte der Forscher. Immerhin kommt es nicht jeden Tag vor, dass Archäologen bei ihren Ausgabungen auf Gold stoßen. Als Leiter eines Teams von fünf Fachleuten des Museum of London Archaeology (MOLA) war es für Balázs der erste Goldfund überhaupt in seiner 17-jährigen Berufskarriere.

Zerfallenes Skelett

Das schimmernde Edelmetall entpuppte sich als opulente 30-teilige Halskette aus römischen Münzen, Glasplättchen, Granaten und anderen Schmucksteinen – ein in dieser Form einzigartiger Fund, der in Großbritannien seinesgleichen sucht. Überreste der Person, deren Hals die Kostbarkeit einst zierte, wurden zwar ebenfalls entdeckt, doch viel war von ihr nicht geblieben: Die Forschenden bargen nur einige wenige Zahnfragmente, der Rest des Skeletts war offensichtlich zu Staub zerfallen.

Dennoch gehen die Fachleute davon aus, dass es sich um eine Frau gehandelt haben muss. Vergleichbarer Halsschmuck war aufgrund bisheriger Erkenntnisse ausschließlich in weiblichem Besitz. Außer Zweifel steht, dass die Dame sehr wohlhabend gewesen sein und eine hohe Position in der Gesellschaft innegehabt haben muss.

Blauäugige Gesichter

Darauf deuten auch die übrigen Artefakte hin, die die Forschenden in dem Grab entdeckt haben: Reste eines großen Silberkreuzes, zwei verzierte Töpfe aus Frankreich oder Belgien mit Rückständen einer unbekannten Flüssigkeit sowie eine flache Kupferschale. Obwohl das Kreuz weitgehend zerfallen war, ließ sich seine ursprüngliche Form mithilfe von Röntgenaufnahmen sichtbar machen, die man vor der eigentlichen Bergung vom Boden rund um das Grab angefertigt hatte. Kleine aus Silber gefertigte menschliche Gesichter mit blauen Glasaugen, mit denen das Kreuz wohl einst geschmückt war, hatten die Jahrhunderte ebenfalls in erstaunlich gutem Zustand überdauert.

Eine Röntgenaufnahme von dem Grab offenbarte ein kunstvolles silbernes Kreuz.
Foto: MOLA

Aufgrund der Form und Machart der Funde datierten die Forschenden das Grab der Frau in eine Zeit zwischen 630 und 670. Damals bildeten heidnische und christliche Überzeugungen in Britannien noch eine wilde Mischung. Das lässt sich auch aus dem Inhalt des Grabes schließen: "Menschen mit viel Schmuck zu begraben ist eine heidnische Praxis", sagte Simon Mortimer, der an den Ausgrabungen beteiligt war. "Zugleich ist die Beisetzung offensichtlich stark von der christlichen Ikonografie geprägt."

Geschmückt war das Kreuz mit kleinen silbernen Gesichtern.
Foto: Mola

Im Süden Merziens

In der Region, in der die Ausgrabungen stattfanden, lag im Frühmittelalter der Süden des Königreichs Merzien, das im 7. Jahrhundert allmählich zum Christentum konvertierte. Bei der Toten dürfte es sich wohl schon um eine christliche Gläubige handeln, wahrscheinlich sogar um eine mit hoher Position innerhalb der lokalen Kirchenhierarchie. Vielleicht war sie sogar das Oberhaupt einer Abtei. Einig sind sich die Forschenden jedenfalls darüber, dass die Dame eine der ersten Frauen in Großbritannien gewesen sein muss, die eine solche Machtposition in der Kirche ausfüllten.

Der prachtvolle Anhänger der frühmittelalterlichen Kette.
Foto: Mola

Zwar hat man in England in der Vergangenheit ein gutes Dutzend ähnlicher Gräber hochrangiger Frauen gefunden, aber kaum eines davon stammt aus der Zeit vor dem 7. Jahrhundert. Bei späteren Beisetzungen wiederum kamen kostbare Beigaben wie Halsketten deutlich seltener vor, da diese Praxis von den frühchristlichen Kirchenvertretern immer mehr abgelehnt wurde. "Der Schatz von Harpole ist vielleicht nicht der größte in Bezug auf die Anzahl der Artefakte", sagte Balázs. "Hinsichtlich des sichtbaren Reichtums ist er jedoch der bedeutendste."

Unschätzbar ist vor allem aber der Erkenntnisgewinn durch den Fund: Der Schatz wird nach Meinung der Forschenden dabei helfen, einige Wissenslücken über die finstere Zeit zwischen dem Abzug der römischen Besatzer im 5. Jahrhundert und der Ankunft der Normannen fast 400 Jahre später zu schließen. (tberg, 17.12.2022)