Ein Fusionskraftwerk würde sich von einem klassischen Atommeiler äußerlich kaum unterscheiden.

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Ein alter Schmäh unter Forschenden und Physik-Nerds lautet: Die einzige Konstante in der Fusionsforschung sei, dass es zu jedem Zeitpunkt in 30 Jahren einen funktionierenden Fusionsreaktor geben werde. Die Kernfusion ist die Karotte vor der Nase der Menschheit: Energie, die praktisch kostenlos, unendlich, sauber und zum Greifen nahe scheint. Und das nun schon seit 60 Jahren.

Mit dem Durchbruch in einem kalifornischen Labor erscheint die Kernfusion wieder einmal näher: Forschenden am Lawrence Livermore National Laboratory der National Ignition Facility (Nif) ist es gelungen, eine kontrollierte Kernfusion ablaufen zu lassen und dabei mehr Energie herauszubekommen, als sie eingesetzt hatten. Sie hatten die Kernfusion mit starken Lasern eingeleitet.

Ein Großteil der Forschung konzentriert sich allerdings auf sogenannte Tokamak-Reaktoren, wo statt mit Lasern mit starken Magnetfeldern gearbeitet wird. Dort sehen Forschende das größte Potenzial für einen künftigen Reaktor, der auch wirtschaftlich Energie erzeugen kann. Auch Georg Harrer arbeitet an der Technischen Universität Wien an Kernfusion in Tokamak-Reaktoren. Auch wenn die Technik eine andere ist, könne man von den Kollegen in den USA etwas lernen, sagt er.

Neue Benchmark

Die wichtigste Kennzahl in der Fusionsforschung sei der Verstärkungsfaktor, der mit Q abgekürzt wird. Liegt er über eins, erzeugt ein Reaktor mehr Energie, als eingespeist wurde. Bei dem Experiment in den USA wurde ein Q-Wert von 1,2 erreicht. "Das ist jetzt unsere Benchmark", sagt Harrer.

Damit ein Fusionsreaktor künftig wirtschaftlich betrieben werden kann, müsse man aber auf einen Q-Wert von 30 bis 50 kommen. Nachdem der Meilenstein, nämlich Q=1, erreicht wurde, sind höhere Q-Werte laut Harrer aber gar nicht mehr so schwierig. Da gehe es vor allem um die richtige Reaktorgröße und Isolierung. "Das ist wie der Unterschied zwischen Schweden- und Kachelofen", sagt Harrer.

In sogenannten Tokamak-Reaktoren wird mit sehr starken Magneten ein Plasma erzeugt, in dem Wasserstoffatome zu Helium fusionieren.
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Der weltgrößte Versuchskernreaktor Iter, der gerade in Südfrankreich gebaut wird, ist darauf ausgelegt, einen Verstärkungsfaktor von zehn zu erreichen. In Betrieb gehen soll er frühestens 2035. Doch auch Iter wird keinen Stromausgang haben. Erst der Nachfolger, der Demo-Reaktor, soll wirklich Strom erzeugen. Forschungsreaktoren wie Iter haben noch "hunderte verschiedene Fenster, wo man mit Messgeräten reinschauen kann", erklärt Harrer. Beim Demo-Reaktor geht es hingegen darum herauszufinden, wie wirtschaftlich Energie erzeugt werden kann, statt um physikalische Grundlagen. Die meisten Staaten planen, ihre Demo-Reaktoren zwischen 2040 und 2050 einzuschalten.

Hohe Investitionen

Sollten sich die Demo-Reaktoren bewähren, würden kurz darauf einige wenige Reaktoren der ersten Generation folgen, die von privater Hand mit dem Ziel gebaut werden, Energie zu gewinnen. Die darauf folgenden Reaktoren der zweiten Generation wären günstiger und effizienter – und könnten bereits in hundertfacher Ausführung entstehen.

Das alles kostet viel Geld. Ein niederländisches Forscherteam um Niek Cardozo ging 2016 davon aus, dass rund zwei bis vier Billionen US-Dollar an Investments notwendig seien, damit Fusionsenergie mit Wind und Photovoltaik mithalten kann. Wie schnell die Kernfusion an Schwung gewinnt, hängt laut Cardozo auch davon ab, wie risikofreudig Unternehmen sein werden. Denn diese müssten die hohen Baukosten, inklusive Zinsen, für die neue Technologie aufbringen, bevor sich diese im großen Stil bewährt hat.

Hunderte Reaktoren notwendig

Zwischen den Reaktorgenerationen könnte zudem viel Zeit vergehen, in denen es kaum Lerneffekte gibt. So setzt man etwa eine Bauzeit von zehn Jahren an – so lange dauert es heutzutage, ein traditionelles Kernkraftwerk in Betrieb zu nehmen. Beim Bau könnte man auch an logistische Grenzen stoßen. Um im Jahr 2100 ein Drittel des Stroms aus Fusion zu erzeugen, müssten wir ab 2080 jährlich 250 Reaktoren bauen, rechnet Cardozo in einem wissenschaftlichen Fachbeitrag vor. Zum Vergleich: Derzeit entstehen etwa zehn Atomreaktoren pro Jahr.

In Südfrankreich entsteht gerade der International Thermonuclear Experimental Reactor (Iter).

"Unendlich Energie", wie oft proklamiert, liefern Fusionsreaktoren keinesfalls. Der Output eines Fusionskraftwerks werde wohl bei etwa einem Gigawatt liegen – eine typische Größe für ein heutiges Atomkraftwerk, das etwa ganz Wien mit Elektrizität versorgen könnte. Ein Gigawatt sei nicht nur die Größe, welche die Netzbetreiber fordern, um Kernspaltungskraftwerke direkt zu ersetzen, sondern auch das, was wirtschaftlich Sinn macht, erklärt Harrer. Kleine, modulare Reaktoren würden sich nur rentieren, wenn es große Fortschritte in Nachbardisziplinen gäbe – etwa bei der Forschung an Hochtemperatur-Supraleitern, die für Magnete im Tokamak-Reaktor benötigt werden.

Genug Brennstoff verfügbar

Die Fusionsreaktoren würden zudem Deuterium und Tritium als Brennstoff brauchen. Die beiden Wasserstoff-Isotope sind auf der Erde reichlich vorhanden. Deuterium kommt in Meerwasser vor und kann aus diesem mit Zentrifugen gewonnen werden. Tritium wiederum wird aus Lithium im Reaktor selbst erbrütet. "Wir hoffen, dass uns die Akkuproduzenten noch etwas Lithium für die Fusion übriglassen", scherzt Harrer. Viel braucht es von dem Rohstoff allerdings nicht: Das Lithium einer einzigen E-Auto-Batterie könnte bei der Kernfusion so viel Energie liefern, wie in 40.000 Tonnen Steinkohle steckt. So viel verbrauchen 1.000 Personen in Österreich in rund 70 Jahren – von Strom über Heizung bis Autofahren und Fliegen.

Um gefährlichen Abfall müsste man sich bei Kernfusionkraftwerken weniger Sorgen machen. Statt über zigtausende Jahre hinweg strahlender Atommüll entsteht nur harmloses Helium. Nur bestimmte Gebäudeteile, wie die Innenseite der Brennkammer, würden durch die Strahlung aktiviert, also selbst radioaktiv. Diese Strahlung würde aber bereits nach wenigen Jahrzehnten abklingen. Derzeit werde aber an Materialien geforscht, die weniger Strahlung aufnehmen, sagt Harrer. Im Versuchsreaktor Iter komme etwa ein spezieller Stahl zum Einsatz, der bereits nach 50 Jahren weniger strahlt als Asche aus Kohlekraftwerken.

Viele Unbekannte

Wie viel die Kernfusion bis zum Ende des Jahrhunderts zum Energiemix beitragen wird, lässt sich nur mutmaßen. Die Schätzungen gehen, je nach Quelle und Optimismus, von einem Anteil im Promillebereich bis über weit die Hälfte des weltweiten Energiebedarfs. Physiker Harrer hält es für realistisch, dass Fusionsreaktoren bis 2100 so viel Energie bereitstellen wie Atomreaktoren heute – also etwa zehn Prozent des Strombedarfs.

Doch für eine seriöse Prognose gibt es zu viele Variablen. Wie sehr klemmen sich Regierungen als die derzeit größten Finanziers der Fusionsforschung hinter die Technologie? Was tut sich bei den Fusions-Start-ups, die in den letzten Jahren aus dem Boden geschossen sind? Wie sehr behindern weltpolitische Entwicklungen die Forschung, bei der bisher trotz Krieg und Rivalitäten international kooperiert wurde?

Eines ist schon jetzt klar: Bevor neue Kraftwerke Realität werden, werden die Experimente in den USA militärisch genutzt werden. Der Administrator für Verteidigungsprogramme in der nationalen Nuklearsicherheitsabteilung des Energieministeriums Marvin Adams betonte bei der Präsentation des Durchbruchs, dass die neuen Ergebnisse in erster Linie Bedeutung für die Nationale Sicherheit hätten und Anwendungen für die Gewinnung von sauberer Energie sekundär wären. Laborexperimente würden helfen, Wasserstoffbombentests zu ersetzen.

Letztlich hat das Lawrence Livermore National Laboratory militärischen Hintergrund. So kommt dreißig Jahre nach dem Kalten Krieg mit den neuen Ergebnissen auch die Wasserstoffbombe wieder aufs Tapet.

Saubere Energie für später

Nicht zu vernachlässigen ist auch die Entwicklung bei den erneuerbaren Energien. Vor allem Windenergie und Photovoltaik sind in den vergangenen Jahren günstiger geworden – und die Preise dürften weiter fallen. Cardozo gibt etwa zu bedenken, dass der Strommarkt ab 2050 bereits mit klimafreundlichen Energien gesättigt sein könnte. Bis dahin könnte auch die Speicherfrage gelöst sein.

Die aktuellen Klimaziele müssen wir nach dem derzeitigen Stand ohnehin ohne Kernfusion erreichen. Doch auch in 30, 50 oder 100 Jahren schadet es nicht, eine weitere saubere Energiequelle zur Verfügung zu haben. Weil Fusionsreaktoren erst einmal Wärme und nicht Strom produzieren, könnte diese in Zukunft direkt genutzt werden – etwa um Meerwasser zu entsalzen, für Fernwärme, zur Wasserstoffproduktion oder gar als Antrieb für eine Marsmission.

Doch die 30 Jahre bis zur nutzbaren Fusionsenergie, sie könnten jetzt endlich begonnen haben. (Philip Pramer, Reinhard Kleindl, 16.12.2022)