Der verurteilte Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu mit der Chefin der ebenfalls oppositionellen IYI-Partei, Meral Akşener – und im Schatten von Kemal Atatürk.

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Es war kurz nach 18 Uhr Ortszeit in Istanbul, als die Menschenmenge vor dem Rathaus der Stadt kurz in kollektives Schweigen verfiel. Auf tausenden Handys erschien da die Nachricht, auf die die Anhänger des Istanbuler Oberbürgermeisters seit Stunden mit Bangen und Hoffen gewartet hatten. Und es war eine schlechte Nachricht: Das Schwurgericht auf der asiatischen Seite Istanbuls verurteilte Ekrem İmamoğlu in einem grotesken, offensichtlich politisch gesteuerten Verfahren zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft – und lieferte auch noch das von der Regierung gewünschte Verbot jeder politischen Tätigkeit für den populärsten Politiker der größten Oppositionspartei CHP gleich mit.

VIDEO: Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu ist wegen Beleidigung zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Für die Dauer der Strafe gilt ein Politikverbot.
DER STANDARD

Doch das Schweigen vor dem Rathaus währte nur wenige Sekunden. Dann ertönten die Rufe "Es lebe İmamoğlu" und "Rücktritt der Regierung" umso lauter in den Nachthimmel. Als am Nachmittag bekannt wurde, dass in dem seit Monaten verschleppten Verfahren gegen İmamoğlu ein Urteil bevorstand, mobilisierte der Bürgermeister kurzfristig zu einer Kundgebung vor dem Rathaus, und tausende Menschen machten sich auf den Weg.

Unglückliche Berlin-Reise

Zwar ließ das Urteil dann noch mehrere Stunden auf sich warten, in denen die Menge in der Kälte sich mit Sprechchören warmhielt, doch niemand verließ den Platz. Unterdessen liefen die politischen Drähte im Hintergrund heiß. Ekrem İmamoğlu war erst gar nicht zu der Gerichtsverhandlung erschienen, sondern bereitete sich im Rathaus auf seinen großen Auftritt vor. Ein Jubelschrei ging durch die Menge, als bekannt wurde, dass Meral Akşener, die Vorsitzende der zweiten großen Oppositionspartei IYI-Parti, ebenfalls im Rathaus eingetroffen war und dort begeistert von İmamoğlu empfangen wurde.

Es ist seit langem ein offenes Geheimnis, dass die einflussreiche Akşener bei den bevorstehenden Wahlen statt des CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu der sich seit Wochen dafür selbst ins Gespräch bringt, gerne İmamoğlu als Präsidentschaftskandidaten der vereinten Opposition sehen würde.

Aus Sicht vieler CHP-Anhänger machte Kılıçdaroğlu am Mittwoch auch den großen Fehler, eine Reise nach Berlin anzutreten, statt İmamoğlu am Tag der Urteilsverkündung vor Ort zu unterstützen. Als das Urteil bekannt wurde, verbreiteten sich in den sozialen Medien mit spöttischen Kommentaren versehene Fotos von Kılıçdaroğlu, wie er in Berlin vor der Passkontrolle steht. Ohne den Flughafen überhaupt zu verlassen, setzte sich der Chef der CHP direkt wieder in ein Flugzeug zurück nach Istanbul – doch als er dort ankam, war es bereits zu spät.

Ein Ruck durch die Opposition

Denn während er im Flieger saß, veranstalteten İmamoğlu und Akşener in der Menge vor dem Rathaus auf dem Dach eines eilig organisierten Wahlkampfbusses eine Party, die im Nachhinein wohl als der Auftakt der Wahlkampagne des Oppositionslagers gesehen werden wird. İmamoğlu bezeichnete das Urteil als ein politisches Komplott des Präsidenten gegen ihn und alle 16 Millionen Istanbuler, deren Oberbürgermeister er ist. "Wir werden dieses politisch motivierte Urteil niemals anerkennen", rief er der begeisterten Menge zu. "Wir fordern Recht und Gerechtigkeit", schallte es vom Platz zurück. War die Kampagne der Opposition bislang über ein paar Presseerklärungen kaum hinausgekommen, während Präsident Tayyip Erdoğan publikumswirksam von einem internationalen Gipfeltreffen zum nächsten jettete, spürte man plötzlich ein neues Momentum.

Erdoğan, der just zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung wieder auf einem internationalen Gipfel weilte – dieses Mal in Turkmenistan –, dürften angesichts der Bilder vom Saraçhane, dem Platz vor dem Rathaus, starke Zweifel gekommen sein, ob es ihm mit diesem politischen Urteil tatsächlich wie erhofft gelingt, seinen stärksten Rivalen bei den kommenden Wahlen aus dem Weg zu räumen, oder ob er nicht im Gegenteil damit İmamoğlu erst gerade den Märtyrerbonus verschafft hat, der ihn nun zum Star der Opposition macht.

Denn das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, und das Berufungsverfahren kann sich bis zu zwei Jahren hinziehen. In dieser Zeit bleibt İmamoğlu im Amt oder könnte auch als Präsidentschaftskandidat antreten. Eine Entscheidung über ihren Kandidaten für die Wahl im kommenden Frühjahr werden die sechs Parteien, die sich zu einem Bündnis gegen Erdogan zusammengeschlossen haben, wohl in den nächsten Tagen fällen. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 15.12.2022)