Die Tupolev M-141 ist ein halbes Jahrhundert alt und stammt noch aus alten Sowjetbeständen. Die Streitkräfte der Ukraine konnten das Museumsstück in eine effektive Cruise Missile verwandeln.

Foto: Verteidigungsministerium der Ukraine

Auf einem leidlich gepflegten Stück Wiese ist eine seltsame Maschine seit Jahrzehnten den Elementen ausgesetzt. Es ist der Platz vor dem Luftfahrtmuseum im russischen Monino, und da steht ein Fluggerät, das aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Es erinnert an einen Kampfjet ohne Piloten, mit viel zu kurzen Stummelflügeln, aber einem umso größeren Triebwerk. Es handelt sich um eine Tupolew M-141 (oder Tu-141), auf Russisch auch "Strisch", also Mauersegler, genannt. Diese unbemannte Drohne zur Luftaufklärung wurde vor 47 Jahren in den Dienst gestellt und sollte Fotos von feindlichen Truppen machen – analog versteht sich. Mit Museumsstücken dieser Bauart griffen ukrainische Streitkräfte den Flugplatz in Dyagilevo und den Flughafen für strategische Bomber bei der russischen Engels an.

Dabei verlor Russland erstmals in der Geschichte – jedenfalls vorübergehend – zumindest einen strategischen Bomber des Typs Tu-95MS. Fotos zeigen einen der Bomber in Löschschaum, daneben sind meterlange Brandspuren am Asphalt zu erkennen. Der Verlust einer Tu-95MS schmerzt Russland besonders. Das Flugzeug kann bis zu 16 mit atomaren Sprengsätzen bestückte Marschflugkörper abfeuern. Diese Maschinen sind das Rückgrat der strategischen Bomberflotte Russlands und ein wesentlicher Teil der atomaren Abschreckung von Putins Reich. Die russische Luftwaffe verfügte nur über 60 einsatzbereite Flugzeuge dieser Art – jetzt sind es nur noch 59.

Theoretisch können Drohnen vom Typ M-141 Ziele tief im russischen Territorium erreichen.
Foto: Calcmaps, DER STANDARD

Beim Angriff auf den Militärflughafen Dyagilevo dürfte ebenfalls ein strategischer Bomber ausgeschaltet worden sein, diesmal eine Tupolev Tu-22M. Dieses Flugzeug ist im Gegensatz zur Tu-95MS mit Düsentriebwerken statt mit Propellern ausgestattet und kann damit eine Überschallgeschwindigkeit von bis zu Mach 1,88 erreichen kann. Eine Tu-22M kann je nach Bestückung und Konfiguration bis zu sechs atomare Luft-Boden-Raketen tragen. Russland verfügt laut westlichen Schätzungen über 60 derartige Flugzeuge.

Ukraine düpiert russische Luftabwehr

Neben dem materiellen Verlust kommt für Russland auch die Demütigung hinzu: Nicht nur ging erstmals strategisch wichtiges Kriegsgerät im Zuge von Kampfhandlungen verloren, noch dazu geschah dies mit einem Drohne aus der Sowjetunion der 70er-Jahre, und die russische Luftabwehr war nicht in der Lage diese abzufangen.

Nach den Einschlägen in den Militärflughäfen kam es am Tag darauf erneut zu ukrainischen Drohnenangriffen. So wurde laut einem Bericht der russischen "Baza" das streng geheime Kombinat Slawa bei Brjansk getroffen. Der Zweck des Kombinats ist unklar, die dortige Tätigkeit ist ein Staatsgeheimnis Russlands. Auch der Flugplatz Kursk-Khalino wurde getroffen. Dieser vornehmlich als Stützpunkt für russische Abfangjäger. Laut russischen Angaben wurden bei den beiden Angriffen jeweils Treibstofftanks getroffen. Ob dabei die alten Drohnen aus Sowjetzeiten zum Einsatz kamen, ist unklar. Es gilt aber als unwahrscheinlich, dass die Ukraine wenig lohnende Ziele wie Treibstofftanks in einem Geheimkombinat und einem Militärflughafen angreift.

Schäden an einem Bomber Tu-95MS.

Zwar bestätigt man in Kiew nicht, dass es sich bei den Angriffen um das Werk der ukrainischen Streitkräfte handelt, aber dort lässt man sich mit Bestätigungen gerne mehrere Wochen Zeit. So bestätigte das ukrainische Verteidigungsministerium die Angriffe auf Flugfelder auf der von Russland besetzten Krim erst einen Monat später. Fest steht, dass der Angriff mit den Uraltdrohnen erfolgte.

Ein Haufen historisches Altmetall

Doch wie baut man eine sowjetische Aufklärungsdrohne aus den 70er-Jahren in einen effektiven Marschflugkörper um? Laut dem ukrainischen Nachrichtenportal "Defense Express" musste dafür zuerst das antiquierte Kamera-Equipment entfernt werden. Eine "Strisch" hat rund 100 Kilo an unbelichtetem Film an Bord, was Raum für einen Sprengkopf bietet. Trotz ihres hohen Alters ist die Drohne auch heute nach heutigen Maßstäben noch schnell: Sie kann eine Geschwindigkeit von 1.100 km/h erreichen und mit etwa 50 Metern extrem tief fliegen. Darüber hinaus verfügt die Drohne über ein Trägheitsnavigationssystem. Das bedeutet, das unbemannte Flugzeug kann seine eigene Position während des Fluges erkennen und Kursabweichungen selbstständig korrigieren. Außerdem ist ein rudimentäres Navigationssystem mit an Bord, mit dem die Flugroute vorab definiert werden kann. Aber am wichtigsten für die Ukraine dürfte die Reichweite gewesen sein: Eine Tu M-141 kann bis zu 1.000 Kilometer zurücklegen.

In russischen Telegramkanälen kursiert dieses Foto. Es zeigt die Schäden an einem Bomber des Typs Tu-22M.
Foto: Telegram/milinfolive

Darüber hinaus dürften die ukrainischen Streitkräfte laut nicht näher genannten Quellen die Drohne mit der Fähigkeit zur Satellitennavigation ausgestattet haben, was erst möglich machte, ein einzelnes Flugzeug zu treffen. Aus einem Haufen ein halbes Jahrhundert altem militärischem Altmetall wurde also eine improvisierte aber effektive Cruise Missile.

Schwierige Entwicklung

Die Umwandlung der Aufklärungsdrohne in eine Langstreckenwaffe war aber nicht frei von Fehlschlägen. So stürzte im März eine M-141 vor einem Studentenwohnheim in Zagreb ab. Da Russland selbst die Strisch nicht mehr einsetzt, war schnell klar, dass die Drohne von den ukrainischen Streitkräften stammt – obwohl das Verteidigungsministerium der Ukraine heftig dementiert. Die Drohne dürfte Ungarn überquert haben und schlug dann in der kroatischen Hauptstadt ein. Wahrscheinlich ist, dass die Strisch vom Kurs abkam und abstürzte, als der Treibstoff zur Neige ging. Am 3. Juli wurden zwei M-141 von der russischen Luftabwehr über der Region Kursk abgeschossen.

Welche Auswirkungen diese Entwicklung hat, ist noch nicht absehbar, aber schon jetzt ist klar, dass die Ukraine mit umgebauten M-141 Ziele tief im russischen Territorium treffen kann. Die Waffe mit der höchsten Reichweite im Arsenal der Ukraine war bislang die Totschka-U, eine von einem Fahrzeug abgefeuerte ballistische Rakete für Bodenziele mit einer Reichweite von 120 Kilometern. Mit dem Umbau der alten sowjetischen Drohnen wurde diese effektive Reichweite beinahe verzehnfacht.

Russland stört GPS-Signal aus Angst vor weiteren Angriffen

Der Schock in Russland über die Angriffe sitzt jedenfalls tief. So wird in Moskau und anderen größeren Städten aus Angst vor weiteren Drohnenangriffen das GPS-Signal gestört. Wie das estnische Sicherheitsunternehmen SensusQ berichtet, seien Störungsgebiete von mehreren Hundert oder sogar Tausend Kilometern Größe über Russland ausgemacht worden. Betroffen sind die Hauptstadt Moskau sowie Wolgograd, Smolensk und Samara sowie die Exklave Kaliningrad.

Außerdem wurden laut Berichten des britischen Verteidigungsministeriums die strategischen Bomber Russlands Anfang der Woche auf unterschiedliche Flugplätze verteilt, damit soll das Risiko weiterer Verluste minimiert werden. (Peter Zellinger, 17.12.2022)