Rigide Regeln erhöhen das Verlangen – und sollten deshalb abgelegt werden, rät die Ernährungspsychologin Cornelia Fiechtl.

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Die Vanillekipferln von der Oma, Mamas Kaiserschmarrn oder deftig in Fett panierte Köstlichkeiten – ganz egal, welche Kindheitserinnerung bei Ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt, für viele sind bestimmte Gerichte aus der Kindheit bis heute etwas Besonderes. Schließlich gab es die Lieblingsgerichte nicht alle Tage, und wenn es sie gab, durfte man auch bloß nicht zu viel davon essen – ist ja ungesund.

Viele haben von klein auf gelernt: Manche Lebensmittel sind gut, andere schlecht. Diese Kategorisierung ist Unsinn, findet Cornelia Fiechtl. Sie ist klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin, spezialisiert auf die Themen Essverhalten und Körpergefühl, und ist überzeugt davon, dass man sich das Recht auf Essen ohne rigide Regeln zurückholen darf.

STANDARD: Welchen Einfluss hat unsere Kindheit auf unser Verhältnis zu Essen?

Fiechtl: Einen sehr großen. Viele meiner Patientinnen, die jetzt ein gestörtes oder ungesundes Essverhalten haben, berichten von negativen Erlebnissen aus der Kindheit. Essverhalten wird sozialisiert. Wie im sozialen Umfeld gegessen wird, welche Rituale es gibt, wie die Beziehung zu Essen und Körper in der Kindheit ist – all das ist ein wesentlicher Einflussfaktor auf das spätere Essverhalten. Und auch die Verhaltensweisen der Eltern färben auf die Kinder ab. Sie bekommen dadurch Werte vermittelt: Was ist richtig? Was ist nicht richtig?

STANDARD: Es geht also auch wesentlich darum, was Kinder zu Hause beobachten. Viele erinnern sich vielleicht an Mamas, die ständig auf Diät waren und vor dem Spiegel kritisch die vermeintlichen Speckröllchen beäugt haben. Was macht das mit Kindern und späteren Erwachsenen?

Fiechtl: Kinder – vor allem Mädchen und junge Frauen – lernen schon sehr früh, dass ein bestimmter Körper richtig ist und andere Körper falsch sind. Schon Kinder beginnen, sich auf die Waage zu stellen oder heimlich Süßigkeiten an Mama und Papa vorbei ins Zimmer zu schmuggeln. Körper, Aussehen und Essen nehmen dann häufig auch später im Erwachsenenleben bei vielen Frauen Raum ein und bestimmen den Alltag.

STANDARD: Geht das Verhältnis zum Essen immer mit der Beziehung zum Körper einher?

Fiechtl: In der Regel ist das gekoppelt. Das liegt daran, weil in unserer Gesellschaft kommuniziert wird, dass Bewegungs- und Ernährungsverhalten einen sehr starken Einfluss auf den Körper haben. Wenn ich mich in meinem Körper beispielsweise nicht wohlfühle, wird mir von außen suggeriert, dass ich einen anderen Körper bekommen kann, wenn ich mein Essverhalten manipuliere. Die Koppelung dieser beiden Themen beginnt schon in der Kindheit mit Aussagen wie "Iss nicht so viel Schokolade, sonst wirst du dick".

STANDARD: Was ist mit all jenen, die in der Kindheit nicht den idealen Start hatten, was ihre Beziehung zu Essen angeht, und die sich wünschen, gesunde Essgewohnheiten aufzubauen? Wie kann das gelingen, ohne das Essverhalten zu manipulieren, wie Sie sagen?

Fiechtl: Zuallererst die Umgebung ändern, in der man sich aufhält – auch auf sozialen Medien, das heißt allen Accounts entfolgen, die einem vermitteln, dass man, so wie man ist, falsch ist. Stattdessen solle man eine Umgebung schaffen, die einen bestärkt und dabei hilft, Gedankenmuster aktiv wieder zu verlernen. Mit Freundinnen und Freunden reden, Bücher lesen, Podcasts hören, Diätgedanken aufschreiben, hinterfragen und lernen, mehrmals am Tag bewusst in sich hineinzuspüren: Wie fühlt sich mein Hunger gerade an? Was ist der Unterschied zwischen kleinem und großem Hunger? Dasselbe gilt für das Bewegungsverhalten. Sagen wir nicht Sport, sondern Bewegung, das ist für viele unbelasteter. Es geht darum, Bewegung zu machen, weil sie Freude macht, und nicht, weil sie Kalorien verbrennt.

Man darf sich das Recht auf Essen zurückholen und sich bewusst machen: Ich habe das Recht zu essen, egal welchen Körper ich habe. Essen ist ein Grundbedürfnis. Es ist sehr viel Kopfarbeit, die man leisten muss, um zu verstehen, dass die Bewertung von Essverhalten nichts mit einem persönlich zu tun hat, sondern ein gesellschaftlicher Fehler ist.

STANDARD: Das funktioniert gut, solange man sich dieses Umfeld selbst schaffen kann. Über die Feiertage geht es für viele zurück in das Umfeld, in dem man aufgewachsen ist. Manche blicken der Zeit vielleicht angespannt entgegen, fürchten unangenehme Kommentare von Onkel Sepp und Tante Herta, die ein "Gut schaust aus" mit einem Kniff in die Wange kombinieren und damit oft sagen: "Zugenommen hast du." Wie geht man damit um?

Fiechtl: Es ist wichtig, sich immer wieder daran zu erinnern, dass diese Onkeln und Tanten selbst so sozialisiert wurden. Für die ist das normal, vielleicht denken sie gar nicht daran, dass das etwas unangenehmes oder schlechtes sein könnte, weil sie das selbst so vorgelebt bekommen haben. Die kennen das nur so, das ist ein Automatismus. Man muss für sich selbst differenzieren, dass das kein persönlicher Angriff ist, sondern zwar nicht gute, aber gut gemeinte Aussagen sind. Das zu verstehen ist wichtig.

Zudem kann man Grenzen setzen und ansprechen, wie es einem mit solchen Kommentaren geht, was das mit einem macht, warum man das nicht möchte. Das ist wichtig und bestärkt einen selbst. Mit Klientinnen übe ich oft schon im Voraus, Argumente zu formulieren und sie vorab laut auszusprechen. Vorbereitung ist alles.

Jede zweite mehrgewichtige Person ist völlig gesund.

STANDARD: Kritische Kommentare zur Figur und zum Körpergewicht etwa gelten als Risikofaktor für die Entwicklung von Essstörungen. Das gilt auch für nonverbale Kritik wie eine skeptisch hochgezogene Augenbraue, wenn Kinder zum Dessert greifen. Eltern haben dabei natürlich meist die Gesundheit ihrer Kinder im Blick, aber wie könnte man das besser thematisieren?

Fiechtl: Ich denke, man muss das gar nicht zwingend thematisieren. Wenn ein Kind ständig Süßigkeiten isst, würde ich mir als Elternteil die Frage stellen: Warum ist das so? Ist mein Kind traurig, gelangweilt, einsam? Und dieses Gefühl sollte man dann ansprechen, etwa mit Sätzen wie: "Ich habe das Gefühl, dass dir langweilig ist. Möchtest du etwas spielen?" Das erfordert viel Beobachtung und Zuwendung.

Und ganz wichtig: Die eigenen Glaubenssätze hinterfragen. Wenn eine Mama glaubt, ihr Kind esse zu viel von etwas, hat das viel damit zu tun, dass die Mama Lebensmittel bewertet. Eltern teilen Essen häufig in Kategorien wie gut und schlecht ein, das zeigt sich in ihrer Sprache, etwa: "Iss lieber das, das ist gesünder." Dabei muss man nicht hervorheben, dass das eine gesund und das andere ungesund ist. Man kann es einfach vorleben. Es ist wichtig, das Kind nicht zu kontrollieren, sondern dem Kind mehr Autonomie zurückzugeben. Das kann hart sein und vielleicht ist es empfehlenswert, sich dabei von einer Expertin oder einem Berater begleiten zu lassen. Das ist ein komplexes Thema.

STANDARD: Sie sprechen von Gefühlen wie Langeweile oder Einsamkeit, nicht aber von Hunger. Ist Essen immer an Emotion gekoppelt?

Fiechtl: Ja. Ohne Emotionen würden wir nicht essen. Das Gefühl Ekel hält uns davon ab, zu essen. Wenn ich etwas esse, das ich gerne mag, ist das ein Motivator, die Speise immer wieder zu essen. Ich brauche Emotionen, um zu essen. Ein Problem wird es nur dann, wenn Essen ständig dazu benutzt wird, Emotionen zu regulieren.

Cornelia Fiechtl, "Food Feelings. Wie Emotionen bestimmen, was wir essen." € 22 / 160 Seiten. Kremayr & Scheriau, 2022.
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STANDARD: Erhöhen rigide Regeln das Verlangen?

Fiechtl: Auf jeden Fall. Der Mechanismus ist immer der gleiche: Wenn uns unser Kopf Lebensmittel verbietet, wird der emotionale Aspekt in den Hintergrund gedrängt. Je länger ich eine Speise nicht haben darf, desto toller finde ich sie und desto schwieriger wird es, mich zurückzuhalten. Sobald man dann ein Stück von dem Lebensmittel, das man eigentlich nicht essen darf, isst, kommt oft der Gedanke "Jetzt ist es eh schon wurscht". Dann werden alle Regeln über Board geworfen und man isst viel zu viel davon.

STANDARD: Das funktioniert wohl auch in die andere Richtung, oder? Also nicht nur bei Verboten, sondern auch beim Zwang, etwas bestimmtes zu essen. Ich denke an Sätze wie "Gegessen wird das, was auf den Tisch kommt", den wohl viele noch aus der Kindheit kennen.

Fiechtl: Genau. Bei Zwang steigt dann die Abwertung. Das ist auch das Problem, wenn Eltern versuchen, ihre Kinder mit rationalen Gründen zu überreden, Gemüse zu essen. Manche Kinder weigern sich dann umso mehr.

STANDARD: Wie stehen Sie zu anderen Regeln rund um das Essen? Stillsitzen, nicht mit vollem Mund sprechen, sitzenbleiben, bis alle aufgegessen haben – ist das sinnvoll?

Fiechtl: Das kommt immer auf den Kontext an. Warum soll ein Kind sitzen? Ein Kind ist nicht dafür gemacht, stillzusitzen. Das ist widersprüchlich in sich. Aber natürlich möchte man es in manchen Situationen nicht haben, dass das Kind in einem Lokal am Sessel herumturnt. Man muss eine Balance finden.

STANDARD: Studien zeigen, dass Kinder, die regelmäßig mit der Familie essen, als Erwachsene meist ein gesünderes Essverhalten haben. Für viele sind gemeinsame Mahlzeiten allerdings kein alltagstaugliches Modell. Was raten Sie?

Fiechtl: Das Gemeinsame ist extrem wichtig. Es müssen nicht jedes Mal die Eltern mitessen, aber es ist wichtig, Rituale rund ums Essen zu bilden: sich hinsetzen, eine Ruhe schaffen und nicht herumwuseln, während das Kind isst.

Je mehr wir über Ernährung wissen, desto dicker werden die Menschen.

STANDARD: Viele wurde in der Kindheit nicht mit idealen Bedingungen rund ums Thema Ernährung sozialisiert. Das hat Konsequenzen. Hierzulande ist mehr als die Hälfte der Erwachsenen mehrgewichtig, bei den Kindern geht es in eine ähnlich Richtung. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Fiechtl: Ich sehe das grundsätzlich neutral. Ich verstehe natürlich, was Menschen meinen, wenn sie angesichts der starken Gewichtszunahme in der Bevölkerung besorgt sind. Aber ich denke, dass man sich in erster Linie ansehen muss, warum das so ist. Das Gewicht wird von ganz vielen Faktoren bestimmt, und genau diese Faktoren sehe ich nicht neutral.

Die Diätindustrie spielt dabei eine wesentliche Rolle. Oder dass etwa das soziale Milieu, in dem ich lebe, maßgeblich meine Gesundheit, Ernährung und mein Essverhalten beeinflusst, muss man ändern. Wir müssen auch aufhören, dicken Menschen ständig zu sagen, dass sie zu dick seien und abnehmen müssten. Wir leben in einem System, das Hetzjagd auf dicke Menschen macht. Ich finde das komplett falsch. Wir müssen uns viel eher ansehen: Was sind die Ursachen für Gewicht?

Diäten und Abnehmversuche sind ein wesentlicher Faktor, der das Gewicht immer mehr nach oben treibt, das zeigen Studien. Sieht man sich wissenschaftliche Studien im Laufe der Zeit an, stellt man verwundert fest: Je mehr Wissen wir über Ernährung haben, desto mehr steigt das Gewicht der Bevölkerung. Wir sehen seit über 60 Jahren, dass 80 bis 95 Prozent der Abnehmformen scheitern. Wir sehen auch, dass jede zweite mehrgewichtige Person völlig gesund ist. Trotzdem sagen wir: Du bist dick, du bist ungesund, du musst abnehmen. Genau das führt dazu, dass die Menschen nach vier Diäten mehr Gewicht haben als vorher. Das kann nicht sein. (Magdalena Pötsch, 18.12.2022)