Eine Woche nach der Amtsenthebung von Präsident Pedro Castillo hat sich die Lage in Peru zugespitzt. Interimspräsidentin Dina Boluarte verhängte nach blutigen Zusammenstößen am Mittwoch für 30 Tage den Ausnahmezustand im ganzen Land und stellte vorgezogene Neuwahlen im kommenden Jahr in Aussicht, um die Demonstranten zu beschwichtigen. Bei gewaltsamen Protesten und Straßensperren kamen bislang neun Menschen ums Leben, wie lokale Medien berichteten. Zwei waren minderjährig, drei waren gerade erst 18, einer 19 Jahre alt. Sieben wurden nach Angaben der Ombudsfrau erschossen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International rief die Sicherheitskräfte dazu auf, keine exzessive Gewalt anzuwenden.

Protestierende versuchten die Straßen zu blockieren.
Foto: Diego Ramos / AFP)

Die Demonstranten fordern die Auflösung des Parlaments, die Freilassung Castillos und vorgezogene Neuwahlen. Besonders heftig waren die Auseinandersetzungen im Süden des Landes. In Arequipa und Ayacucho wurden Straßensperren und die von Demonstranten besetzten Flughäfen von Militär und Polizei gewaltsam geräumt. Auch in Cusco kam es zu einer Demonstration im Stadtzentrum. Rund 800 Touristen, die die dortigen Inkastätten besuchen wollten, saßen fest. Laut der Anti-Terror-Einheit der Polizei heizen Extremisten der ehemaligen Untergrundbewegung Leuchtender Pfad die Proteste an. Die Unternehmer warnen vor Versorgungsengpässen durch die Blockaden.

Einsame Präsidentin

Derweil beriet der Kongress über Möglichkeiten zur Beilegung der Staatskrise. Die Parlamentarier, von denen vielen Prozesse aufgrund von Korruption und anderen Delikten drohen, zeigten sich nur mäßig begeistert über Neuwahlen im kommenden Jahr. Sie würden dann nicht nur ihre Bezüge, sondern auch ihre Immunität verlieren. Präsidentin Boluarte – zuvor Vizepräsidentin von Castillo – hat einen schweren Stand. Sie hat weder eine Mehrheit im Parlament noch ihre Partei Peru Libre oder soziale Basisorganisationen hinter sich. Peru Libre erklärte sich am Donnerstag zu vorgezogenen Neuwahlen bereit, wenn gleichzeitig eine verfassungsgebende Versammlung einberufen würde. Diese Idee hatte der Kongress schon vor Monaten verworfen.

In Yura ist das Militär auf der Straße.
Foto: Diego Ramos / AFP

Öl ins Feuer goss derweil Castillo, der eine Woche zuvor versucht hatte, den Kongress aufzulösen und einen Ausnahmezustand zu verhängen. Damit wollte er einer drohenden Amtsenthebung wegen anhängiger Korruptionsermittlungen durch den Kongress zuvorkommen. Doch seine Initiative verstieß gegen die Verfassung und brachte die übrigen Staatsgewalten gegen ihn auf. Castillo ist ein einfacher Landschullehrer, der in unterschiedlichen Parteien aktiv war. Bei der letzten Präsidentschaftswahl wurde er vom Hardcore-Marxisten Vladimir Cerrón angeworben, weil dieser selbst nicht kandidieren durfte.

Dysfunktionales System

Castillo veröffentlichte nun einen Brandbrief, in dem er sich als Opfer einer rechten Verschwörung darstellt und Boluarte als "Usurpatorin" bezeichnet. Unterstützt wurden seine Forderungen von zahlreichen linken Regierungen Lateinamerikas, darunter Mexiko, Kolumbien, Argentinien und Bolivien. Sie sehen in Castillo einen ideologischen Verbündeten und riefen in einer gemeinsamen Erklärung dazu auf, den Willen des Volkes zu respektieren, der in den letzten Wahlen Castillo zum Mandatsträger erhoben habe. Boluarte kritisierte die Einmischung in innere Angelegenheiten und rief die Botschafter aus diesen Ländern ab. Castillo sitzt derzeit im Gefängnis, die Staatsanwaltschaft beantragte 18 Monate Untersuchungshaft. Ihm droht ein Prozess wegen Rebellion, ein Verbrechen, das mit zehn bis 20 Jahren Haft bestraft wird.

Foto: REUTERS/Paul Gambin

Die jüngste Staatskrise ist symptomatisch für ein dysfunktionales politisches System, das Peru in einen Beutestaat verwandelt hat. Nahezu alle ehemaligen Präsidenten sitzen mittlerweile wegen Korruptionsvorwürfen in Haft. Boluarte ist die sechste Staatschefin in fünf Jahren. Parteien existieren kaum noch und wurden durch klientelistische Wahlvereine ersetzt, die zum Teil vom organisierten Verbrechen und korrupten Unternehmernetzwerken finanziert werden. Exekutive und Legislative blockieren sich seit Jahren gegenseitig – jeweils auf der Suche nach den lukrativsten Pfründen. Im Kongress und in lokalen und regionalen Ämtern sitzen viele Kriminelle, die kein Interesse an einem funktionierenden Staat haben.

Polizei beim Schutz des Justizpalastes.
Foto: MARTIN BERNETTI / AFP)

Das neoliberale Wirtschaftsmodell schuf Gewinner – vor allem eine urbane, eher hellhäutige und gut gebildete Mittelschicht, die im Bergbau und Agrobusiness tätig ist – und Verlierer: die arme, eher indigene Landbevölkerung, deren Lebensgrundlage durch Agroindustrie und den Bergbau rücksichtlos zerstört wurde. All dies hat ein großes Frustrationspotenzial geschaffen, das sich nun auf den Straßen entlädt. (Sandra Weiss, 16.12.2022)