Der Kampf gegen Fake News ist auch ein Kampf für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sagt Alena Buyx.

Foto: TU München / Andreas Heddergott

Kaum hatte sich die Corona-Pandemie etwas beruhigt, folgten die nächsten Eruptionen: Ukraine-Krieg, Teuerung, Energiekrise. Wir stecken in einer "Multikrise". Das bedeutet, die Gesellschaften bleiben auf absehbare Zeit im Krisenmodus. Was uns das allen abverlangt, darüber spricht Alena Buyx in der ÖAW-Christmas-Lecture (20. 12., 18 Uhr, Festsaal der ÖAW, Anmeldung auf oeaw.ac.at) und vorab hier.

STANDARD: Das Thema Ihres Vortrags lautet "Gespaltenes Land? Wie wir gemeinsam durch die Multikrise kommen". Kein Rufzeichen, sondern mit Fragezeichen. Hat das Coronavirus die pandemischen Gesellschaften nun gespalten oder doch nicht?

Buyx: Mir ist dieses Fragezeichen sehr wichtig, denn wir sind keine gespaltenen Gesellschaften, weder in Deutschland noch in Österreich. Eine Spaltung würde ja wirklich ein Auseinanderfallen, ein sehr fundamentales Unverbundensein bedeuten, und das zeigen auch die neuesten Studien nicht. Aber wir sind enorm belastet und herausgefordert und sehen damit verbundene Spaltungsphänomene und Polarisierungen.

STANDARD: Wie können wir diese Multikrise also am besten bewältigen?

Buyx: Zunächst finde ich es wichtig zu unterstreichen, dass uns allen als Gesellschaft etwas fehlt. Wir haben seit Beginn der Pandemie, nach dieser tiefen Verstörung, die wir alle bis ins Alltagsleben erlebt haben, nie eine Phase des Aufarbeitens und gemeinsamen Heilens und Verstehens gehabt, denn dann kam der Ukraine-Krieg, dann die Inflation, die Energiekrise, und die Klimakrise ist sowieso da. Das ist auch ein Grund dafür, das ist gut belegt, dass wir als Gesellschaften gereizter sind. Wenn man individuell belasteter ist, ist man auch anfälliger für extremere Positionen, für Fake News und Missinformation – wichtige Treiber der Polarisierung und der Spaltungsphänomene, die wir sehen. Wir werden aus diesem Krisenmodus absehbar auch nicht hinauskommen.

STANDARD: Was also tun?

Buyx: Es gibt nicht den einen Königsweg. Das eine ist, wirklich entschieden gegen Fake News und Desinformation vorzugehen. Es muss gesellschaftlich verstanden werden, dass es extrem wichtig ist, dass wir uns nicht die Fundamente eines gemeinsamen Verständnisses davon, was eigentlich die Realität ist, zerstören lassen, weil sie mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und dem Potenzial der Polarisierung zusammenhängen. Und die Wissenschaft steht für die Prinzipien der Realitätsüberprüfung.

STANDARD: Welche Lehren hat die Pandemie uns als Gesellschaft erteilt, die uns vielleicht auch bei anderen Krisen in der Zukunft helfen können?

Buyx: Das ist der zweite Punkt: Wir brauchen eine Art Resilienzstärkung auf der individuellen, auf der kollektiven Ebene als Gesellschaften und auf institutioneller Ebene. Wir sind jetzt zwar alle müde und erschöpft nach diesen sehr, sehr belastenden zweieinhalb Jahren, und das ist absolut nachvollziehbar. Aber wir haben es doch – nicht optimal, aber insgesamt – geschafft, als Gesellschaften schnell zu reagieren. Wir haben enorme Anstrengungen gesehen im Bereich der Zivilgesellschaft, also nicht politisch verordnet, sondern in Unternehmen, im Gesundheitswesen, im Bildungssystem, also wirklich an der Front. Überall dort, wo es darum ging, etwas zu tun, sind Menschen zu absoluten Höchstleistungen aufgelaufen. Da ist die Fähigkeit da, einer solchen Krise zu begegnen.

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STANDARD: Jetzt kommt ein "aber"?

Buyx: Die Krise hat uns gleichzeitig gezeigt, dass es in der Langstrecke schwierig wird. Da wird es gesellschaftlich sehr anstrengend. Da sehen wir diese Polarisierungseffekte, und da tun wir uns schwerer mit der Güterabwägung. Wen darf man wie stark belasten? Wir als Ethikrat haben die Pandemie rückblickend aufgearbeitet, und eine wesentliche Empfehlung ist, dass wir besser und schneller verstehen müssen: Wer ist besonders vulnerabel? Also dass man die besonders Belasteten schnell schützt und zugleich möglichst wegkommt von der Gießkanne und wirklich nur die unterstützt, die es brauchen. Also hin zu genaueren Maßnahmen. Da denke ich jetzt an die Zukunft. Beispiel Energiesparen: Verletzlich sind wir alle, wir sind alle betroffen in diesen großen Krisen, die ganze Gesellschaften erfassen, aber es gibt immer diejenigen, die besonders betroffen sind und um die wir uns besonders kümmern müssen, aber zielgerichtet. Dazu brauchen wir Daten. Wir haben also auch eine Pflicht zur Wissensgenerierung empfohlen.

STANDARD: Haben wir rückblickend die Belastungen der Pandemie gerecht verteilt, oder wurden einzelne Gruppen über Gebühr belastet? Oft werden da wegen der Folgen der Schulschließungen Kinder und Jugendliche genannt.

Buyx: Ich finde es sehr wichtig, dass man sich nicht anmaßt, eine Art rückwirkende Bewertung der Gesamtgerechtigkeit vorzunehmen. Das ist fast unmöglich, weil man die damalige Situation mit dem Wissen von heute nicht mehr so betrachten kann, wie sie wirklich war. Aber als Deutscher Ethikrat haben wir uns da durchaus selbstkritisch geäußert. Tatsächlich sind die Belange der jüngeren Generation zu wenig berücksichtigt worden, auch wir haben sie nicht genug in den Blick genommen. Diese Gruppe hat in der Pandemie eine enorme solidarische Leistung erbracht und gleichzeitig immer stärker gelitten. Durch die Maßnahmen, aber – und das ist durch Daten sehr gut belegt – auch durch diese Erfahrung einer existenziellen Krise an sich. Die psychische Gesundheit der jungen Generation ist in vielen Ländern deutlich schlechter geworden, und zwar sowohl in Ländern, die fast gar keine Maßnahmen bei den Jungen hatten, also in Schweden zum Beispiel, als auch in Italien, wo sie ja strikter waren als beispielsweise in Deutschland und Österreich.

STANDARD: Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus?

Buyx: Es ist eine einschneidende Erfahrung, in einer solchen Krise zu leben und mit den eigenen Bedürfnissen nicht ausreichend gesehen und gehört zu werden. Wir sagen als Ethikrat: Wir schulden dieser jungen Generation etwas. Die haben sich sehr solidarisch verhalten, die haben das ausgehalten, obwohl es wirklich schwer war für sie. Wir haben als Gesellschaft nicht die solidarische Gegenreaktion erbracht. Deswegen haben wir die Empfehlung formuliert, dass insbesondere mit Blick auf die psychische Gesundheit der jungen Generation unbedingt mehr gemacht werden muss.

STANDARD: Worauf müssen wir bei der Rückkehr in ein möglichst "normales" Leben oder, wie Sie sagten, zur "sozialen Renormalisierung" achten?

Buyx: Wenn man da an Maßnahmen gegen die Pandemie denkt, sind wir eigentlich schon wieder recht weit in einem einigermaßen normalen Zustand. Gleichzeitig ist ein neues Bewusstsein entstanden dafür, dass es Phasen und Situationen gibt, in denen bestimmte Gruppen einer besonderen Gefährdung ausgesetzt sein können. Da müssen wir gesellschaftlich austarieren und aushandeln, wie viel Rücksichtnahme wir von uns gegenseitig verlangen. Und da macht es natürlich einen Unterschied, ob wir über Bereiche reden, wo sich besonders vulnerable Menschen aufhalten (müssen), oder über Orte, wo jeder und jede frei entscheidet, ob man hingeht. Es ist etwas anderes, ob wir über Spitäler oder Discos sprechen.

STANDARD: Dabei möchten die allermeisten ja am liebsten überhaupt nichts mehr von Corona hören ...

Buyx: Ja: Im Augenblick sind alle so erschöpft, dass ich den Eindruck habe, in der Gesellschaft ist gerade weniger Fähigkeit zur Rücksichtnahme da, als wir eigentlich haben, weil so viele Leute aus nachvollziehbaren Gründen sagen: Ich habe echt keine Lust mehr, mir reicht’s. Darum ist es so wichtig, darüber zu reden, damit wir nicht da stehenbleiben, wo wir jetzt sind: Dauernd klagt irgendwer irgendwen an – aber wenn man einmal ein bisschen vom eigenen Ärger absieht, dann ist es oft so, dass man sich sagt: Ja, wenn mich das Husten der anderen nervt, dann sollte ich vielleicht auch nicht krank durch die Gegend laufen oder doch eine Maske tragen. Aber so denken kann man nur, wenn man nicht wütend, empört und aufgeregt ist, sondern sich darauf zurückbesinnt: Ich würde das ja auch ganz gern von den anderen wollen, also mache ich es auch. Das fällt uns gerade schwer, diese Gegenseitigkeit. Aber nicht nur in dieser Multikrise ist es wichtig, uns gegenseitig zu stärken. Das tut uns insgesamt gut. Wir als Menschen sind so gebaut, dass wir verbunden sein wollen mit anderen Menschen. Das würde ich gern als positive Botschaft ins neue Jahr mitnehmen. (Lisa Nimmervoll, 18.12.2022)