Maue Stimmung

Nur bei wenigen Teams kochte das Stadion

Wer sich bei einer WM die Atmosphäre eines Champions-League-Heimspiels erwartet, wird in den allermeisten Fällen enttäuscht. Wenn das Stadion einigermaßen fair zwischen den Fanlagern aufgeteilt ist und wahrscheinlich noch einen ordentlichen Anteil neutraler Fans hat, geht sich ein Hexenkessel kaum aus. Die Stimmung bei den meisten Matches war sogar für WM-Verhältnisse schwach. Ausnahmen waren Partien mit brasilianischer, argentinischer, nordafrikanischer und saudischer Beteiligung, doch bei feinen Spielen wie Deutschland gegen Spanien war einfach nichts los.

Manche der leidenschaftlichsten Fans mögen die WM aus moralischen Gründen boykottiert haben, mehr konnten sie sich aber einfach nicht leisten. Paul Michael Brannagan von der Uni Manchester vermutete in der Financial Times sogar, das sei gewollt: "Das ist ihre Strategie. Sie wollen Fans, die keine Scherereien machen und die katarischen Gesetze respektieren, wenn sie zurückkommen." Es war die erste WM, bei der kein Engländer verhaftet wurde. Katar hat gezeigt, dass Fußball ohne Alkohol wirklich angenehm ist – aber jene, die das Bierverbot abschreckte, sind eben oft auch die Lautesten.

Im Stadion saßen vor allem Leute, die in Katar oder anderen Golfstaaten arbeiten. Viele dieser Fans deckten sich im lokalen Vorverkauf ein und veranstalteten wahre WM-Marathons. Andere hatten nur ein Ticket, füllten die Stadien eine halbe Stunde nach Anpfiff aber kostenlos auf (DER STANDARD berichtete). Bei Matches von Brasilien oder Argentinien waren auch diese meist gut verdienenden Vielschauer mit voller Inbrunst dabei, bei Gustostückerln wie Kamerun gegen Serbien weniger, so sie denn überhaupt kamen. Solche Matches waren ihnen einfach schon ein bisserl wurscht.

Foto: AP/Manu Fernandez

Die Arbeiterfanzone

Der besondere Charme des Cricketstadions

An meinem letzten Abend in Doha hatte ich frei. Das größte Goodie einer Dienstreise wie dieser ist, dass man auch ohne Arbeitsauftrag zu einem Match kann, aber ich wollte Portugals Achtelfinale gegen die Schweiz nicht mehr im Stadion sehen. Vielleicht war ein bisschen innere Pathetik und Abschiedsschmerz dabei, aber es zog mich noch einmal in die Fanzone der Industrial Zone, die ich schon am Anfang der WM für eine vor drei Wochen erschienene Reportage besucht hatte.

Dieses Cricketstadion, in dem die Gastarbeiter die WM verfolgen, hat etwas Besonderes. Natürlich wird man als beinahe einziger Weißer – bei meinem zweiten Besuch war anfangs noch ein Fotograf unterwegs – manchmal kritisch beäugt, aber man muss sich nicht unwohl fühlen. Viele freuen sich über einen kurzen Wortwechsel. Vor allem, wenn man ihn auf Fußball beschränkt.

Die Sympathieverteilung war für mich durchaus überraschend: Fast alle hielten gegen Spanien zu Marokko. Nach dem letzten Elfer starteten fünf junge Männer, die aller Wahrscheinlichkeit nach aus Kenia kamen, einen "Africa, Africa!"-Sprechchor. Auch die zahlreichen Südasiaten drückten Marokko die Daumen. Bei der WM halten die Gastarbeiter zusammen – außer es geht gegen eine der drei superpopulären Mannschaften: Argentinien, Brasilien oder Portugal.

Wobei Letzteres eigentlich FC Ronaldo heißen müsste, wie das abschließende Achtelfinale im Anschluss demonstrierte. Der Fokus auf CR7 war an dem Abend, an dem sein Ersatzmann Gonçalo Ramos beim 6:1 gegen die Schweiz einen Hattrick schoss, faszinierend. Portugals Tore wurden zwar bejubelt, aber nicht so laut wie die Einwechslung des Superstars. Das Highlight der Mehrheit war Ronaldos wegen Abseits aberkanntes Tor.

Foto: EPA/MARTIN DIVISEK

Ein bisschen Chaos

Leere Stadien als Organisationssünde

Im Vorfeld war die Organisation ein Fragezeichen, auch die besten Kenner des Landes widersprachen einander oder waren sich selbst nicht sicher. Nun kann man konstatieren: Es war kein Totalversagen, aber auch nicht perfekt. Die schier unglaubliche Zahl an Arbeitskräften kompensierte einige Planungslücken, doch einige Male brauchten die Ausrichter Glück, um Schwerverletzte zu vermeiden. Beim Eröffnungsspiel waren die Eingänge zur Fanzone kritisch überfüllt, vor Marokkos Achtelfinale gegen Spanien kam es auch wegen falsch vorgehender Sicherheitskräfte zu Tumulten.

Auch der Fußballweltverband patzte: In der Nacht vor Englands Auftaktspiel gegen den Iran verschwanden in der Fifa-App Tickets, manche Fans kamen deshalb zu spät. Den Ticketverkauf muss man generell als Organisationsversagen bezeichnen. Die Fifa offenbart nicht, wer die Tickets für jene hunderten Plätze gekauft hat, die auch bei wichtigen Spielen frei blieben – mag sein, dass gewerbliche und/ oder opportunistische Tickethändler durch den Vorverkauf für Einwohner Katars zu viele in die Hände bekamen. Frenetische Marokko-Fans standen im Viertelfinale mit leeren Händen vor dem Stadion, da die flüsternden Händler 1000 Dollar pro Karte verlangten.

Die Alltagsservices wie Metro und Shuttlebusse funktionierten gut, verlangten aber oft viel Geduld. Generell auffällig war die fehlende Flexibilität: Manchmal wäre es für alle Beteiligten praktischer, vom Plan abzuweichen, aber Vorschrift ist Vorschrift. Die Arbeiter haben Angst, als Konsequenz von freiem Handeln den Job zu verlieren. Sie haben zu Hause Familien zu ernähren, viele müssen den für die Rekrutierung aufgenommenen Kredit abbezahlen. Da riskiert natürlich niemand etwas.

Foto: EPA/MARTIN DIVISEK

Das Bauchweh

Die eigene Rolle im System der Ausbeutung

Katar führt die weltweite Ungleichheit noch stärker vor Augen als ein Urlaub in einem armen Land. Menschen des Globalen Südens gehen unter auslaugenden und oft gefährlichen Umständen über ihre Grenzen, um ihrer Familie das Auskommen zu ermöglichen. Man vergisst das "I’m so tired of driving, I want to go home" eines Uber-Fahrers, der seit 14 Monaten jeden Tag arbeitete, nicht – und noch viel weniger die völlig gebrochenen Blicke der Arbeiter auf einer saudischen Baustelle.

Natürlich ist für diese Dynamik auch unser hiesiger Wohlstand mitverantwortlich. Es sind vor allem westliche Firmen, die in den Herkunftsländern der Arbeiter Lohndumping betreiben oder ihre Subunternehmer zwingen, dies zu tun. So opfern Pakistani ihre besten Jahre lieber schlecht bezahlter Ganztagsarbeit am Golf, statt für noch weniger Geld zu Hause T-Shirts zu nähen. Es ist auch unsere Konsumgier, die dieses System erhält.

Von fußballtrunkenen Fans und traurigerweise auch von unkritischen Kollegen hörte man immer wieder, dass Katar ja gar nicht so schlimm sei, wie man im Vorfeld gelesen habe. Journalisten und WM-Touristen leben für einen Monat in einem Fußball-Disneyland, eingebettet in eine Umgebung, die für Privilegierte auch außerhalb der WM angenehm ist. Für viele andere ist das nicht so.

Ja, ich habe mich selten so sicher gefühlt, doch ein wegen ausstehender Gehälter protestierender Arbeiter ist nicht einmal vor Abschiebung sicher. Weibliche Fans betonten oft, wie unantastbar sie sich in Doha fühlten, den vielen in sklavischen Verhältnissen gehaltenen Dienstmädchen geht es anders. Katar wird es als Erfolg verbuchen, dass die meisten Gäste stets nur den ersten Teil sehen. Für Fans mit Scheuklappen war es eine gute WM.

Foto: APA/AFP/CHANDAN KHANNA

Der Klimakrisenturbo

Ressourcen werden gnadenlos verschwendet

Bitte nicht falsch verstehen: Ich vergönne den Menschen in äquatornahen Breitengraden schon ihre Klimaanlage. In Katar braucht man sie den Großteil des Jahres, um einigermaßen normal leben zu können. Aber es fühlt sich völlig absurd an, aus der Welt des Stromsparens in diesen Hort der Verschwendung zu kommen. Mitte November war das selbstverständliche Dauerkühlen noch nachvollziehbar, einige Wochen später aber nur mehr überschießend.

Das wohl nicht nur unter Medienleuten beliebteste Stadion war das Stadium 974, weil es als einziges keine Klimaanlage hatte. Wegen der kalt-trockenen Luft am Feld verkühlten sich reihenweise Spieler, auch Finalist Frankreich kämpfte in der letzten WM-Woche mit einer Erkrankungswelle. Fans und Journalisten brachten teilweise sogar gleich zwei Pullis ins Stadion mit – das alles, während es draußen perfekte 25 Grad hatte.

Anderen Ländern vorschreiben zu wollen, wie sie mit ihren Ressourcen umgehen sollen, kommt oft aus einem Hintergrund westlicher Arroganz, zumal auch Österreich im globalen Vergleich viel zu viel verheizt. Aber sorry: Wenn man sich irgendwann einmal eine halbe Stunde mit dem Klimawandel befasst hat, dann kann einem in Katar nur schlecht werden. Es ist kein Zufall, dass dieses Land weltweit den höchsten CO2-Ausstoß pro Kopf hat. Energie kostet hier nichts, es ist den Menschen einfach egal.

Doch auch wenn man die lokalen Alltagsgepflogenheiten ausblendet, führt das Thema WM zu nachhaltiger Nachhaltigkeitsverzweiflung. Man kann die CO2-Bilanz der Stadien noch so hingebungsvoll frisieren und sich noch so wunderbare Nachnutzungsmärchen überlegen – allein schon aus Gründen der Erderhaltung hätte Katar diese WM niemals bekommen dürfen. (Martin Schauhuber, 17.12.2022)

Foto: IMAGO/Matthias Koch