Am Sofia-Platz in Kiew wurde allen Widrigkeiten zum Trotz ein Christbaum mit energiesparenden Girlanden aufgestellt.

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Kiew (Kyjiw)/Moskau – Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat von Fortschritten bei der Wiederherstellung der Stromversorgung nach den jüngsten russischen Angriffen berichtet. Innerhalb von 24 Stunden sei die Versorgung für sechs Millionen Menschen wieder hergestellt worden", sagte Selenskyj am Samstagabend. "Die Reparaturarbeiten werden ohne Pausen fortgesetzt nach den gestrigen Attacken der Terroristen."

In Kiew Nach wurde am Samstag die Grundversorgung wiederhergestellt, erklärte Bürgermeister Vitali Klitschko. Ein Viertel der Stadt sei weiterhin ohne Heizung, aber die U-Bahn sei wieder in Betrieb und die Wasserversorgung sei bis zum frühen Morgen für alle Einwohner wiederhergestellt. Nur etwa ein Drittel der Stadt sei weiterhin ohne Strom, aber es würden weiterhin Notabschaltungen vorgenommen, um Energie zu sparen. "Denn das Stromdefizit ist beträchtlich", schrieb er in der Messaging-App Telegram. Am Samstag meldeten die Behörden auch in der Region Charkiw Fortschritte bei der Wiederherstellung der Versorgung.

Währenddessen bereiten sich die Einwohnerinnen und Einwohner von Kiew in der von Nebel umhüllten Stadt auf die unsicheren Feiertage vor. Auf dem Sofia-Platz wurde allen Widrigkeiten zum Trotz ein 12 Meter hoher Weihnachtsbaum, geschmückt mit "energiesparenden Girlanden" aufgestellt. Diese werden zu bestimmten Zeiten von einem Generator angetrieben und in den Farben gelb und blau aufleuchten. Letzten Monat erklärte Klitschko gegenüber dem ukrainischen Nachrichtensender RBC-Ukraine, dass die Weihnachtsbäume der Stadt trotz des Krieges aufgestellt werden, "um unsere Kinder an die Neujahrsstimmung zu erinnern".

Der Baum wurde in dichtem Nebel aufgestellt.
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Angriffe im Gebiet Donezk

Russland vermeldete indes eigene Angriffe im Gebiet Donezk. Es seien dabei Gegenattacken der ukrainischen Armee abgewehrt und im Ergebnis vorteilhafte Positionen eingenommen worden, sagte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow am Samstag in Moskau. Dort seien Sabotage- und Aufklärungsgruppen der ukrainischen Streitkräfte sowie ein Lager mit ausländischen Söldnern vernichtet worden. Dagegen teilte das ukrainische Militär mit, dass Durchbrüche der Russen an der Verteidigungslinie verhindert worden seien. Zu den massiven Raketenangriffen vom Freitag sagte Konaschenkow, es seien "alle anvisierten Objekte (...) zerstört" worden.

In einem von Russland besetzten Dorf in der Ostukraine sind nach russischen Angaben drei Menschen durch ukrainischen Beschuss getötet worden. In Schtschastia in der Region Luhansk seien Raketen des US-Typs Himars eingeschlagen, teilten die von Russland eingesetzten Behörden mit. Fünf weitere Menschen seien verletzt, vier Häuser zerstört worden.

Ein Toter bei Beschuss auf Cherson

Bei russischem Beschuss der südukrainischen Stadt Cherson ist Behördenangaben zufolge ein Mann getötet worden. Der 36-Jährige sei in seinem Auto ums Leben gekommen, als russische Truppen den westlichen Teil der Stadt mit Artillerie und Raketen angegriffen hätten, teilte Regionalgouverneur Jaroslaw Janukowitsch auf dem Kurznachrichtendienst Telegram mit. Zudem sei eine 70-jährige Frau verletzt worden. Die ukrainischen Streitkräfte hatten die Stadt am 11. November zurückerobert.

Im ganzen Land schrillten die Sirenen, wie Behördenvertreter mitteilen. Die Militärverwaltung in Kiew rief die Bevölkerung über den Kurznachrichtendienst Telegram auf, Schutzräume aufzusuchen. Erst am Freitag hatte das russische Militär erneut massiv die zivile Infrastruktur in der Ukraine angegriffen und damit großflächig die Strom- und Wasserversorgung lahmgelegt. Dabei feuerte Russland mehr als 70 Raketen ab. Es war eine der schwersten Angriffswellen seit Beginn der Invasion am 24. Februar.

Selenskyi drängt auf Lieferung von Luftabwehrsystemen

Selenskyj nahm die jüngsten russischen Angriffe in der Nacht auf Samstag zum Anlass, den Westen zur Lieferung von Luftabwehrsystemen zu drängen. Der Westen müsse gegenüber Russland "den Druck erhöhen", sagte er in seiner täglichen Videoansprache. Kiew möchte vom Westen sehr gern das hoch entwickelte Patriot-Luftabwehrsystem für seine Armee. Diesem Wunsch stand die NATO lange sehr zögerlich gegenüber. Inzwischen wollen die USA laut Medienberichten aber doch eines dieser Raketensysteme an die ukrainischen Truppen liefern. Eine offizielle Bestätigung dafür steht aber noch aus.

Allein am Freitag wurden nach Angaben der ukrainischen Armee von den russischen Streitkräften 74 Raketen abgefeuert. Selenskyj zufolge kam es daraufhin zu Stromausfällen in Kiew und 14 weiteren Regionen des Landes. Es werde derzeit an der Wiederherstellung der Versorgung gearbeitet.

In ganz Kiew gehen nach dem massiven russischen Angriff die Lichter aus.
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"Unsere Ingenieure und Reparaturteams haben schon während des Luftalarms mit der Arbeit begonnen", sagte Selenskyj. Er warb bei seinen Landsleuten zugleich um Geduld: Das Stromnetz werde repariert – aber "das braucht Zeit".

Russischer Angriff mit Präzisionswaffen

Russland griff nach eigener Darstellung am Freitag Teile des militärisch-industriellen Komplexes sowie Verwaltungseinrichtungen der Energie-Branche und des Militärs in der Ukraine mit Präzisionswaffen an. "Als Ergebnis des Angriffs wurde der Transport von Waffen und Munition aus ausländischer Produktion vereitelt", heißt es in einer Mitteilung des Verteidigungsministeriums in Moskau. Ukrainische Rüstungsfabriken seien ausgeschaltet worden. Der russische Angriff, einer der größten seit dem Beginn des Krieges, legte umfangreiche Teile der zivilen ukrainischen Infrastruktur lahm.

Russland greift seit Wochen regelmäßig die Energie-Infrastruktur der Ukraine an. Millionen Menschen sind deshalb bei Minusgraden ohne Strom und Heizung. Laut dem staatlichen Energieversorger Ukrenergo ist etwa die Hälfte des ukrainischen Stromnetzes schwer beschädigt.

Putin forderte Berichte von Kommandanten

Der russische Präsident Wladimir Putin hat unterdessen von den Kommandanten der Streitkräfte Vorschläge für das weitere Vorgehen in der Ukraine gefordert. Dies habe Putin am Freitag bei einem Beratungen im Hauptquartier der Einsatzführung der militärischen Spezialoperation, wie Russland den Krieg gegen die Ukraine bezeichnet, erklärt, melden die russischen Nachrichtenagenturen TASS und Interfax am Samstag. Putin habe den gesamten Freitag in dem Hauptquartier verbracht, sagte sein Sprecher Dmitri Peskow zu Interfax. Weitere Einzelheiten über Putins Besuch dort wurden nicht bekanntgegeben.

Scholz stellt Gespräche mit Putin in Aussicht

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat weitere Gespräche mit Putin über eine Beendigung des Angriffskriegs gegen die Ukraine in Aussicht gestellt. "Unser Ziel ist, dass Russland seinen Angriffskrieg beendet und dass die Ukraine ihre Integrität verteidigt", sagte Scholz der "Süddeutschen Zeitung" (Samstagsausgabe). Dazu werde es "notwendig sein zu sprechen", erklärte Scholz.

Moskau soll in seinem Angriffskrieg in der Ukraine nach Einschätzung britischer Geheimdienste iranische Drohnen mittlerweile von einem anderen Standort aus einsetzen als bisher. Bei den Angriffen auf kritische Infrastruktur in den vergangenen Tagen seien neben luft- und seegestützten Marschflugkörpern höchstwahrscheinlich auch vom Iran bereitgestellte Drohnen eingesetzt worden, die aus der südrussischen Region Krasnodar gestartet worden seien, hieß es am Samstag im täglichen Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums auf Twitter. (APA, AFP, red, 17.12.2022)