Nicht einmal jeder und jede zehnte Wahlberechtigte tauchte bei den Parlamentswahlen in Tunesien bei den Wahlurnen auf.

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Die Wahllokale waren leer geblieben wie nie zuvor. Bei den meisten Tunesierinnen und Tunesiern sorgte die Frage nach den Parlamentswahlen nur für Schulterzucken. Man habe drängendere Probleme, zum Beispiel die Preissteigerungen und die Lieferengpässe bei Grundnahrungsmitteln und Medikamenten, so der Tenor im Land.

Diejenigen, die am Samstag ihre Stimme abgaben, begründeten dies oft damit, dass es als Bürgerin und Bürger eine Pflicht sei, wählen zu gehen. Die größte arabischsprachige Tageszeitung des Landes machte am Sonntag nicht etwa mit den Wahlen, sondern dem verlorengegangenen WM-Fußballspiel der marokkanischen Mannschaft um Platz drei auf.

Das Desinteresse der Wählerinnen und Wähler im Verlauf des Tages spiegelte sich in den offiziellen Zahlen der Wahlbehörde Isie wider. Nach vorläufigen Angaben vom Samstagabend lag die Wahlbeteiligung bei gerade einmal 8,8 Prozent. Rund zwei Drittel der Wählenden seien über 45 Jahre alt gewesen.

Positives Fazit

Der Vorsitzende der Wahlbehörde, Farouk Bouasker, versuchte in einer Pressekonferenz dennoch, dies positiv zu deuten. Es habe sich um die ersten sauberen Wahlen des Landes gehandelt, ohne Stimmenkauf und ohne politische Einflussnahme, erklärte er die niedrige Wahlbeteiligung.

Diese indirekte Anschuldigung gegen die Parteien löste scharfe Kritik von Oppositionellen aus. Die Nationale Rettungsfront, ein Zusammenschluss verschiedener Oppositionsparteien um die konservative Ennahda-Partei, hatte wie die meisten anderen Parteien zum Boykott der Wahlen aufgerufen. Sie sehen diese als nicht legitim an, da sie nur dazu dienen würden, dem zunehmend autokratischen System einen demokratischen Anstrich zu verleihen.

Rücktritt gefordert

Die Rettungsfront forderte am Samstag den Rücktritt der Wahlbehörde und die Absage der Stichwahl. Diese würde lediglich öffentliche Gelder verschwenden. Staatsoberhaupt Kais Saied müsse zurücktreten und vorgezogene Präsidentschaftswahlen ansetzen. "Was heute passiert ist, gleicht einem Erdbeben", sagte der Chef der Rettungsfront, Ahmed Nejib Chebbi. "Von diesem Moment an halten wir Saied für einen illegitimen Präsidenten."

Gespannt schauen nun alle auf die Reaktion des Präsidenten, der sich bis zum Sonntagmittag noch nicht zum Ergebnis geäußert hatte. Denn Beobachter sehen in den Parlamentswahlen auch eine Abstimmung über sein politisches Projekt, mit dem er die Regionen stärken und junge Leute mehr in die Politik einbinden will.

Fast eineinhalb Jahre nachdem Saied unter zunächst großer öffentlicher Zustimmung den Notstand ausgerufen und die Macht in Tunesien an sich genommen hatte, waren sie nach dem Verfassungsreferendum im Juli die nächste Etappe, um das politische System und seine Institutionen von Grund auf umzustrukturieren.

Persönlichkeitswahl

Der Präsident hatte in der Vergangenheit immer wieder die Parteien für die politische Krise im Land verantwortlich gemacht. Um diese zu schwächen, hatte er das Wahlrecht geändert: Im Gegensatz zu früheren Parlamentswahlen handelte es sich diesmal um eine Persönlichkeitswahl.

Mehr als 1000 Kandidaten bewarben sich um die 161 Sitze im tunesischen Parlament, darunter 120 Frauen. Doch ohne Parteien im Hintergrund gelang es den oft wenig bekannten Kandidierenden nicht, die Bevölkerung an die Urnen zu bringen. Die neue Verfassung, die dem Präsidenten weitgehende Befugnisse einräumt, hatten die Wählenden im Sommer zwar mit fast 95 Prozent angenommen. Allerdings war bereits damals nicht einmal ein Drittel der Wahlberechtigten überhaupt zur Abstimmung gegangen. (Sarah Mersch aus Tunis, 18.12.2022)