Oliver Bellenhaus ist der Kronzeuge der Staatsanwaltschaft, er erhebt schwere Vorwürfe gegen Markus Braun.

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München – Wieder betritt er selbstbewusst den Gerichtssaal in der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim. Schwarzer Rollkragenpulli, dunkelblauer Anzug. So kennt man Markus Braun, den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden von Wirecard. Am Montag steht jedoch ein anderer im Mittelpunkt im Prozess rund um den größten Skandal der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Oliver Bellenhaus ist an der Reihe. Einst war er Wirecard-Statthalter in Dubai, heute ist er Kronzeuge der Staatsanwaltschaft.

Doch bevor Bellenhaus startet, beginnt der dritte Verhandlungstag, wie der zweite endete. Brauns Anwalt Alfred Dierlamm teilt Vorwürfe gegen so ziemlich alle aus und fordert abermals die Aussetzung des Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft führe "Parallelermittlungen", stelle nach "Gutdünken" Unterlagen zur Verfügung, und die Verteidigung habe tausende PDF-Dokumente und riesige Datenmengen erst viel zu spät zur Sichtung bekommen. Die Kammer hat über den Antrag noch nicht entschieden, damit ist auch heuer nicht mehr zu rechnen.

Dierlamm beschreibt, wie Bellenhaus auch nach Beginn der Sonderprüfung durch KPMG noch Millionen verschoben und Konten verschwiegen hätte. Der einzig Unwissende und Unschuldige in der Causa sei sein Mandant, Markus Braun. Nach Dierlamms Statement beginnt ein Schlagabtausch mit der Staatsanwaltschaft. Sie können sich nicht einmal einigen, um welche Konten es in den Drittpartnergeschäften geht. Ein durchaus amüsantes Hin und Her in einer knochentrockenen Materie.

Vorwurf der Staatsanwaltschaft

Die Staatsanwaltschaft wirft Braun und zwei weiteren Angeklagten Bilanzfälschung, Marktmanipulation, Untreue und Betrug vor. Eine kriminelle Bande um Braun habe jahrelang die Bilanzen des einstigen Dax-Konzerns gefälscht und das Trugbild eines erfolgreichen Unternehmens gezeichnet. Dafür hätten Braun und seine Komplizen milliardenschwere Geschäfte mit sogenannten Drittpartnern (Third Party Acquirers, TPA) erfunden und mit erfundenen Gewinnen die Kreditgeber des 2020 zusammengebrochenen Dax-Konzerns um 3,1 Milliarden Euro geprellt. Braun bestreitet die Vorwürfe.

Bellenhaus teilt aus

Oliver Bellenhaus ist an der Reihe. Das Vorlesen eines 94-seitigen Statements beginnt, danach sollen 115 weitere folgen, das hat auch der Richter nicht erwartet. Der Kronzeugenauftritt beginnt mit einer gehörigen Portion Pathos. Es laste viel Druck auf ihm, er sei erschrocken über sein eigenes Wesen und seine Taten. Wirecard sei 20 Jahre lang seine Identität gewesen, sagte der 49-Jährige. "Kleine Lügen wurden zu großen Lügen, große Lügen werden bestraft."

Danach geht er in die Offensive: "Wirecard war ein Krebsgeschwür, das jahrelang unentdeckt wucherte." Es folgt außerdem die Retourkutsche für die Vorwürfe von Brauns Anwalt. "Markus Braun war ein absolutistischer CEO. Wenn er etwas sagte, wurde es so gemacht. Es gab ein System des organisierten Betrugs." Und nun seien alle anderen schuld. Die Verteidigungsstrategie gleiche Verschwörungstheorien.

Komplexe Zahlungsstränge

Bellenhaus zu folgen, bereitet allen Journalistinnen und Journalisten im Verhandlungssaal Schwierigkeiten. Er spricht leise, schnell und monoton. Dazu ist die Materie der verworrenen Zahlungssträngen äußerst komplex. Den Wirtschaftsprüfern seien falsche Grundlagen vorgegaukelt worden, um die vorhandenen Treuhandgelder zu berechnen. Zweistellige Millionenbeträge seien immer wieder im Kreis gelaufen, um ein nicht existentes Drittpartnergeschäft zu rechtfertigen. Bellenhaus zufolge kann es sich auch nicht ausgehen, dass das Loch "nur" 1,9 Milliarden Euro betragen habe, es müssten mindestens 2,5 Milliarden Euro gewesen sein. Prognosen für das kommende Jahr seien Jahresende gemacht und an die etwaigen Bedürfnisse angepasst worden. Es sei eigentlich ein "Wunder", dass das alles nicht viel früher aufgeflogen ist.

Brauns Reaktion

Wie reagiert sein einstiger Chef auf diese Aussagen? Markus Braun sitzt fast direkt hinter Bellenhaus. Starrer Blick. Er verzieht größtenteils keine Miene, kaut vereinzelt auf seiner Unterlippe herum, faltet dann und wann die Hänge und tippt immer wieder etwas in seinen Laptop. Seine Aussagen werden übrigens für die zweite Jännerhälfte erwartet – abhängig vom Aussetzungsantrag.

Daten auf Eigenbestellung

Neben den Zeitungsberichten der "Financial Times" spielte die Sonderprüfung von KPMG eine wichtige Rolle, um das Kartenhaus zum Einsturz zu bringen. Dass der Hut brennt, als KPMG anklopfte, dürfte den Protagonisten bewusst gewesen sein. Bellenhaus erzählt, wie er gemeinsam mit Jan Marsalek und dem dritten Angeklagten Stephan von Erffa beschlossen hat, Datensätze selbst herzustellen. Man habe sich in einem Hotel in Dubai eingenistet und versucht, Daten zu kreieren. Es habe einen Datengenerator gegeben, der Drittpartner-Transaktionen erzeugte. Verdächtige Zahlen sein manuell "korrigiert" wurden. Und sich die benötigten Daten auf sehr kurzem Dienstweg selbst zu besorgen, dürfte im ganz großen Stil passiert sein.

Überdies beschreibt Bellenhaus, wie Wirecard immer wieder Firmenportfolios aufkaufte, um darüber Gelder aus dem Unternehmen zu schleusen. Portfoliokäufe hätten hauptsächlich dazu gedient, um das TPA-Geschäft real wirken zu lassen. Dass eine Bande hinter Brauns Rücken Milliarden gestohlen hätten, sei Unsinn. Außerdem hätten Drittpartner 100 Prozent der Gewinne an Wirecard abgegeben, warum sollte irgendein Unternehmen so etwas machen.

Zusammenfassend sagt Bellenhaus: "Das TPA-Geschäft von Wirecard hat es nie gegeben. Treuhandkonten waren nur dazu da, um Geschäfte vorzutäuschen."

(Andreas Danzer aus München, 19.12.2022)