Foto: Fatih Aydogdu / Der Standard

Kurz sah es so aus, als könnte der Deal platzen: Die Nerven auf der Weltnaturkonferenz in Montreal lagen am Wochenende blank, die Meinungen der Staaten klafften weit auseinander. In den frühen Montagmorgenstunden einigten sich die Staaten dann doch, der Durchbruch für das globale Abkommen für den Naturschutz gelang. Es soll das sechste Massensterben, in dem sich die Welt heute befindet, abbremsen.

Rund eine Million Tier- und Pflanzenarten drohen zu verschwinden. Sterben sie aus, wird es auch für uns ungemütlich. Warum das so ist, wie der Mensch das Artensterben vorantreibt und wie es sich aufhalten lässt
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Rund eine Million Arten stehen kurz vor dem Verschwinden, Insektenarten weltweit werden rapide dezimiert, die Ozeane immer weiter mit Plastik zugemüllt, und der Überkonsum schießt weit über die Grenzen des Planeten hinaus. Das neue Abkommen will mit 23 Zielen eine Trendwende einläuten – unter anderem mit neuen Schutzgebieten, einem Fonds und einer Absichtserklärung, Pestizidrisiken weltweit zu halbieren.

Jetzt liegt es an den Staaten, all das auch umzusetzen und die vielen offenen Punkte zu klären. Denn die Einigung der Konferenz (COP 15) bringt in erster Linie einen Rahmen, der erst mit konkreten Beschlüssen befüllt werden muss. Ein Überblick zu den wichtigsten Punkten:

  • Vager Beschluss zu 30-Prozent-Ziel

Es war das wohl prominenteste Ziel der Weltnaturkonferenz: Mindestens dreißig Prozent der Meeres- und Landesoberfläche sollen bis 2030 unter Schutz gestellt werden. Im Vorfeld der Konferenz mahnten Fachleute und Umweltschutzorganisation, dieses Ziel sei der notwendige Minimalkompromiss.

Er gelang – allerdings tatsächlich in Minimalversion. So ist im Abschlusstext nicht mehr von "hohem", "vollem" oder "striktem" Schutz die Rede, auch ein Verbot "schädlicher Aktivitäten" fiel weg. Stattdessen sollen die Gebiete "nachhaltig genutzt" werden – was das genau bedeutet, bleibt Auslegungssache.

Die Forderung indigener Gruppen wurden hingegen besser verankert: Bei der Einrichtung der Schutzgebiete sollen die Rechte indigener Völker geachtet werden, gibt der Vertrag dezidiert vor. Sie hatten die Sorge geäußert, dass Naturschutz gegen den Willen der ansässigen Menschen umgesetzt werden könnte und etwa traditionelle Formen der Jagd und der Landwirtschaft nicht mehr möglich wären. Viele der artenreichsten Gebiete der Welt liegen in indigenen Territorien.

Auch außerhalb der Schutzgebiete soll nachgebessert werden. Die Staaten werden in dem neuen Vertrag etwa dazu aufgerufen, ihre Raumplanung zu überdenken, um das Artensterben zu stoppen. Zudem sollen 30 Prozent der degradierten Landes- und Meeresflächen renaturiert werden – doch auch hier bleibt offen, wie sie aussehen muss.

  • Mehr Geld für Naturschutz, weniger für Zerstörung

Viel Gezänk gab es um die Frage der Finanzierung und einen neuen Fonds, mit dem Industrieländer die Entwicklungsländer beim Naturschutz unterstützen. "Es war genau dieselbe Diskussion wie zu Loss and Damage auf der Klimakonferenz", sagt Gerald Gimpl aus dem Klimaschutzministerium, der für Österreich an den Verhandlungen teilnahm. Damit bezieht er sich auf den Streit auf der Weltklimakonferenz vor einem Monat in Sharm El-Sheikh, bei der Entwicklungsstaaten Geld von Industriestaaten für Klimaschäden forderten, die letztere mit ihrem niedrigen CO2-Ausstoß kaum verursacht haben.

In der Diskussion um einen neuen Biodiversitäts-Fonds einigten sich die Vertreterinnen und Vertreter zwar auf eine abgeschwächte Version, aber dennoch auf einen neuen Fonds. In diesen sollen die finanziell stärker ausgestatteten Staaten des Globalen Nordens ab 2025 jährlich 25 Milliarden US-Dollar einzahlen, ab 2030 soll der Beitrag auf 30 Milliarden steigen. Gefordert wurden ursprünglich jedoch 100 Milliarden Dollar.

An dieser Forderung hielt die Delegation der Demokratischen Republik Kongo (DRK) bis zuletzt fest und intervenierte in der Schlussabstimmung. "Die Vertragsparteien entwickelter Staaten sollten den Vertragsparteien sich erst entwickelnder Staaten die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellen", sagte ein Verhandler der DRK. Das vorliegende Abkommen reflektiere dies nicht ausreichend, kritisierte er.

Die chinesische Präsidentschaft verabschiedete das Abkommen schließlich trotz der kongolesischen Einwände, gefolgt von scharfer Kritik anderer afrikanischer Staaten. "Was wir gesehen haben, war eine erzwungene Entscheidung", so ein Vertreter Kameruns.

Damit wurden Zweifel laut, ob der Beschluss überhaupt gültig ist – schließlich müssen sämtliche Entscheidungen einstimmig gefällt werden. Nach Ansicht der UN ist der Beschluss aber gültig, da die DRK keinen formellen Einwand erhoben hatte – eine Ansicht, welche die Delegierten des afrikanischen Staates nicht teilen.

Für weniger Kontroverse sorgte der Beschluss, Förderungen zu beenden, die die Umwelt zerstören. Dazu erklärten die Staaten, umweltschädliche Anreize und Subventionen bis 2025 zu identifizieren und auslaufen zu lassen.

Dabei geht es vor allem um Gelder für die Landwirtschaft und die Fischerei, aber auch für fossile Brennstoffe. Ab 2030 sollen solche Subventionen jährlich um 500 Milliarden US-Dollar sinken, so das neue Abkommen.

  • Streit zur Nutzung digitaler Bio-Daten

Will ein Konzern ein neues Medikament produzieren, das auf biologischen Daten basiert, kann er diese mittlerweile einfach digital beziehen – ohne das tatsächliche biologische Material in Absprache mit dem Ursprungsland zu brauchen. Sie können einfach auf die sogenannte digitale Sequenz-Information, kurz DSI, zugreifen. Einige Länder, aus denen besonders viele solcher Daten stammen, zum Beispiel Brasilien, die Demokratische Republik Kongo und Indien, forderten daher auf der Weltnaturkonferenz eine Regelung, die sie an den Profiten beteiligt, die mit den Daten eingefahren werden.

Afrikanische Staaten machten dazu einen Vorschlag, ein Prozent der Gewinne als eine Art Steuer abzuführen und das Geld in Biodiversitätsprojekte zu stecken. Japan und die Schweiz mit ihren großen Pharmabetrieben, aber auch die EU zeigten sich solchen Forderungen gegenüber skeptisch. "Wir haben bei so einer Regelung Bedenken gehabt, dass sie zu Einschränkungen der freien Wissenschaft führen kann", erklärt Gimpl vom Umweltministerium.

Das Ergebnis: ein bislang vager Kompromiss. So sollen Anteile der Gewinne in einen Fonds gehen – welche Gewinne genau, welcher Anteil und zu wessen Gunsten, muss allerdings erst geklärt werden. "Ich war sehr überrascht, dass es überhaupt eine Einigung gab", sagt dazu Adam McCarthy vom Manchester-Institut für Innovationsforschung. Es sei ein Versuch, Biotechnologie und Innovation mit Konservierung und dem Schutz von indigenem Land zu verknüpfen. Ob der Entwurf einen positiven Beitrag dazu leistet? "Das werden wir erst wissen, wenn die Details geklärt sind", so McCarthy.

  • Weniger Chemikalien auf den Feldern

Überraschend ist, worauf sich die Staaten zu Punkt sieben einigen konnten: Das Risiko von Pestiziden und schädlichen Chemikalien solle bis 2030 halbiert werden. "Wir sehen das als einen großen Erfolg", sagt dazu Gimpl. Allerdings gelte es auch hier, viele offene Fragen zu klären.

Die einzige Region der Welt, die bereits mit einem konkreten Gesetzesvorschlag dazu vorgezogen ist, zögert unterdessen: Wenige Stunden nachdem sich die knapp 200 Staaten in Montreal auf das Biodiversitätsabkommen geeinigt hatten, besprachen die Ministerinnen und Minister der EU-Mitgliedstaaten die nächsten Schritte für die Pestizidrichtlinie.

Bis diese umgesetzt wird, wird es wohl noch dauern: So beschlossen sie, dass es eine ergänzende Studie zur bereits durchgeführten Folgenabschätzung geben soll. Das könnte das EU-Gesetzgebungsverfahren verzögern und dadurch möglicherweise verhindern, kritisiert die Umweltorganisation Global 2000. Die Staatengemeinschaft müsse die Pestizidreduktion rasch und verbindlich auf den Weg bringen, so Helmut Burtscher: "Die EU-Staaten haben die Pflicht, zu zeigen, dass sie das Artenschutzabkommen ernst nehmen."

Fragliche Umsetzung

Die Rahmeneinigung steht. Ob die Vorhaben Wirklichkeit werden, hängt jetzt allerdings vom politischen Willen der einzelnen Staaten ab – Sanktionen für Verstöße sind nicht vorgesehen. Bereits 2010 verabschiedete die Biodiversitätskonferenz ähnliche Erklärungen, die durchaus ehrgeizigen Aichi-Ziele, die bis 2020 umgesetzt werden sollten.

"Wenn man auf die letzten Zielvereinbarungen blickt, sieht man, dass es beim Thema Biodiversität nicht an ehrgeizigen Zielen mangelt, sondern an der Umsetzung", sagt Katrin Böhning-Gaese von der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt. Von den 20 Aichi-Zielen wurde bislang kein einziges erreicht.

Damit komme der Öffentlichkeit, wie zum Beispiel NGOs, eine große Bedeutung zu, die Einhaltung der Ziele einzufordern, so Böhning-Gaese weiter. Auch Gerichte könnten dabei in Zukunft eine große Rolle spielen. (Alicia Prager, Philip Pramer, 19.12.2022)