Na, haben Sie Ihre Jahresbilanz schon? Wie viele Laufkilometer, wie viele Höhenmeter, wie viele Stunden im Gym waren es denn heuer?

Wenn Sie jetzt den Kopf schütteln, haben Sie natürlich recht: Das ist egal. Nicht Kudos und Kilometer, sondern Augenblicke und Erlebnisse zählen. Erlebnisse mit Menschen. In meiner Welt meist mit solchen, die ähnlich ticken. Weil sie "Dings" sind.

Um die geht es in diesem Jahresrückblick. 2022 ließe sich natürlich auch über Events und Bewerbe beschreiben. Oder über Sonnenaufgangsläufe. Ranking inklusive. Hier und heute aber kommen Menschen vor. Exemplarisch, ohne Reihung oder Anspruch auf Vollständigkeit. Denn "Dings" hatte 2022 viele feine, lachende und fröhliche Gesichter.

Foto: Tom Rottenberg

Im Jänner begann diese kleine Serie mit Pater Tobias, dem "Marathonpater". Dem "Läufer Gottes" war ich im Dezember beim Wüstenmarathon in Eilat in Israel begegnet – und schon damals hatte der Geistliche aus Duisburg etwa 140 Marathons in den Beinen. Mittlerweile hält der Priester bei über 150 Langdistanzen. Dabei läuft er nicht nur Marathons, sondern auch Ultras – und die nie nur für sich selbst, sondern immer auch für karitative Zwecke – manchmal angeblich tatsächlich in der Soutane.

Foto: Tom Rottenberg

Auf eine ganz andere Art "Dings" ist jene Partie, die sich an einem Februarmorgen am Hauptbahnhof zum ersten "Flaschendrehlauf" in Wien traf. Peter und Florian, die beiden Lauf-Podcaster von "Laufendentdecken" hatten Ultralauf- und Podcastkollegen aus Deutschland eingeladen, ihr Zufallslaufroutenspiel nach Wien zu bringen: In die Richtung, in die die vor dem Loslaufen gedrehte Flasche zeigt, wird danach gelaufen – eh nur sechs Stunden lang.

Dass die Flasche am Hauptbahnhof als Richtung Nordwesten vorgab, war eine glückliche Fügung: Für einige der Gäste war es nämlich der erste Wien-Besuch – und auf dieser Route (übers Belvedere durch die City, dann die Donau hinauf und über den Bisamberg zur Burg Kreuzenstein) erlebt und sieht man Wien und sein Umland optimal.

Foto: Tom Rottenberg

Was da außen vor bleibt: Schönbrunn. Dass man dort nicht nur schöne, lange Runden mit Sisi-Assoziationen drehen, sondern auch knackig Hügelintervalle laufen kann, ist bekannt.

Dass sich hier auch "Everesting" und andere Spielereien ausgehen, ist – zumindest rein rechnerisch – eh klar. Wirklich versucht haben derlei hier bislang aber wohl nur wenige Menschen.

Mit seinem "Gloriette1000"-Projekt tat der ehemalige nordische Kombinierer Christoph Szalay aber genau das: Er lief die Serpentinen zur Gloriette so oft hinauf und wieder hinunter, bis er 1.000 Höhenmeter beisammenhatte. In einem durch: 36 Kilometer lang.

Wieso jemand so was macht? Weil es geht. Aber auch, weil das repetitive Element einer solchen Übung einen eigenen Charme entwickelt. Erklären lässt sich das aber eher schwer: Dings eben.

Foto: Tom Rottenberg

Wieso man mit altem Gerät auf Strecken unterwegs ist, auf denen man sich auch mit moderner Ausrüstung anstrengen müsste, muss man auch nicht verstehen. Manche Leute haben dafür aber zumindest Verständnis. Zumindest wenn es Optik und Ästhetik betrifft. Beim Fahren schaut es dann aber rasch anders aus.

Davon zu erzählen, wie schön es sein kann, auf Retro-Bikes durch die Hügelwelt des Weinviertels zu rollen, ermöglichen Horst Watzl, Martin Friedl und Michael Mellauner jedes Jahr einer stetig wachsenden Schar von Bike-Enthusiastinnen und -Enthusiasten: "In Velo Veritas" lehnt sich an Idee und Konzept von Events wie der "Eroica" an, ist in dieser Vintage-Bike-Welt aber längst selbst ein Klassiker.

Was daran "Dings" ist? Erstens, die Art, wie die Veranstalter ihre Leidenschaft da für andere erlebbar machen: Jedes Jahr anders – aber immer mit Herzblut. Zweitens: Fahren Sie mal mit einem Rad ohne "echte" Gangschaltung und mit einem Wolltrikot im Sommer 2.000 Höhenmeter – dann reden wir noch mal.

Foto: Tom Rottenberg

Nein, nicht jeder Plan geht auf. Aber wer "scheitern" sagt, wenn es um das 100-Kilometer-Projekt von Lukas Hinterhölzl geht, den oder die möchte ich einladen, selbst einmal auf jenem Niveau zu scheitern, wie es "Luxi" tat: Der 33-jährige Wiener wollte seinen ersten 100er laufen. Nicht in einem Wettkampf, einfach so. Die Strecke – von Krems die Donau runter nach Hause – war eigentlich perfekt: flach, gaaaanz leicht bergab – und meist mit Rückenwind.

Nur kann halt immer was passieren. Hitze und Gegenwind etwa. Oder die eigene Euphorie macht einem einen Strich durch die Rechnung: Luxi "overpacte" auf den ersten 40 Kilometern, er war zu schnell. Dafür zahlte er danach – obwohl ihn halb Dings-Lauf-Wien dann begleitet: Es wurden 80 Kilometer.

Doch gerade Menschen, die schon 100er und noch mehr "k" en bloc gelaufen sind, hatten dafür dann nur ein Wort: "Respekt, Oida!"

Foto: Tom Rottenberg

Frauen sind natürlich genauso Dings wie Männer. Und heuer durfte ich eine junge Frau in die Welt des Dings-Seins erste Reihe fußfrei begleiten. Am Anfang dieser Kolumne sehen Sie das Bild vom Happy End dieses (für jeden und jede) alles andere als einfachen Weges. Elisabeth kämpfte sich heuer durch ihren ersten Marathon – in Berlin. Heroisch und oft haarscharf an jener Linie, an der "aufgeben müssen" nicht nur ein Wort ist.

Aber genau dieses Durchbeißen hatten wir geübt. Etwa beim Traunsee-Halbmarathon, hier im Bild: Ja, von dem Lauf gibt es auch 1.000 jubelnde "Schönbilder" – aber dieses hier ist im Kontext wichtiger.

Foto: Tom Rottenberg

In Wirklichkeit geht es ja bei alldem um Träume. Wer nicht fragt, "ob", sondern "wann" man einen großen Traum wahr machen wird, ist auf dem richtigen Weg. Weil dann das "Wie" anderes leuchtet.

Womit wir bei Wolfgang Kölli wären. Der Steirer erfüllte sich heuer einen Traum fast aller Ultra-Läufer und Ultra-Läuferinnen: Er lief den "Western State Endurance Run". Der "Western State" gilt als "Mutter aller Ultratrails" und ist der älteste 100-Meilen-Lauf der Welt. 5.000 Höhenmeter rauf, 7.000 runter, mehrere Klimazonen, wilde Landschaften.

Allein der Weg zu einem der nur 370 Startplätze braucht Power und Durchhaltevermögen – und Leidenschaft. Und von alledem handelt Köllis 23-Stunden-und-42-Minuten-Geschichte auch. Sein Schlusssatz bringt dann alles, worum es geht, auf den Punkt: "Ich bin nicht der schnellste Läufer der Welt – aber der glücklichste."

Foto: Kölli

Einer, der hier heuer einige Male vorkam, ist Stefan Langer. Langer ist seit etlichen Jahren das Mastermind von Wiens (soweit ich es überblicke) größtem wöchentlichem, für alle offenem Gratis-Lauftreff, dem "Weekly Long Run".

Darüber hinaus erfand er das mittlerweile auch schon legendäre Freitagmorgen-Hügellauf-Format "Belvedere Hills", bei dem nicht nur gelaufen, sondern auch gefrühstückt wird. Dass der laufnarrische Rechtsanwalt – so nebenbei – auch noch das Ab- und Belaufen des Wiener Straßenbahnnetzes über die "Tram Challenge" kuratiert und soeben zum "Botschafter" des Marathons in Bratislava ernannt wurde, sei hier nur am Rande erwähnt – der Dings-Beweis dürfte aber erbracht sein.

Foto: Tom Rottenberg

Darüber, dass Dings zwar schön, aber nicht immer vernünftig sein muss, können alle hier Versammelten Lieder, Arien und Opern singen. Besonders "schön" demonstrierte das heuer Beate beim Wolfgangseelauf: Sie war ein paar Tage vor dem Lauf blöd und schmerzhaft umgeknöchelt. Dass es nicht wirklich schlau wäre, zu starten, war der einstigen Kader-Skirennläuferin natürlich bewusst. Aber dass sie es trotzdem tun würde, allen, die ihr davon abrieten.

Obwohl der "Klassiker" rund um den See schöner denn je war, lief Beate durch die Hölle – ein Zwischenstopp bei den Sanitätern inklusive. "Darüber, ob es gscheit ist, urteile ich nicht: Ich bin selbst Läufer, ich weiß, wie wir ticken", erklärte der Arzt, als sie erklärte, weiterlaufen zu wollen.

Beate kam ins Ziel – mit Tränen in den Augen, aber stolz, glücklich und lächelnd.

Und auch wenn Menschen, die nicht selbst "Dings" sind, das wohl auch im kommenden Jahr nicht verstehen werden: Nur das zählt. (Tom Rottenberg, 27.12.2022)


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Foto: Tom Rottenberg