"Kindle" und "E-Reader'': zwei Begriffe, die viele Menschen synonym verwenden und so indirekt viel über die Dominanz von Amazon in diesem Bereich aussagen. Seit Jahren sind die Kindles unumstrittener Marktführer, niemand sonst verkauft auch nur ansatzweise so viele entsprechende Geräte.

Die nächste Generation

Mit dem Kindle Scribe hat Amazon unlängst nicht nur seinen bislang größten und teuersten E-Reader vorgestellt, mit der neuen Hardwaregeneration bricht man auch in neue Anwendungsbereiche auf. Erstmals gibt es nämlich die Möglichkeit, via Stift Notizen zu machen. Damit reagiert Amazon auf neue Herausforderer wie die Remarkable-Reihe, deren zweite Generation gerade aktuell ist.

Der Kindle Scribe ist im direkten Vergleich zwar eine Spur günstiger, dies ändert aber nichts daran, dass der Verkaufspreis ab 373 Euro für einen Kindle in ziemlich hohen Sphären angesiedelt ist. Insofern soll sich im Test nicht zuletzt zeigen, ob sich diese zusätzliche Investition rentiert – und wenn ja, für wen. Zudem stellt sich die Frage, ob Amazons erster E-Reader mit Stift gegen die neue Konkurrenz bestehen kann.

Der erste Kindle mit Stift: Amazons Kindle Scribe.
Foto: Proschofsky / STANDARD

Ein großes Display

Beginnen wir mit den Eckdaten: Der Bildschirm ist 10,2 Zoll groß und damit, wie schon erwähnt, der bisher größte Kindle. Mit einer Pixeldichte von 300 PPI weiß das E-Ink-Display ebenso zu gefallen wie mit der Hintergrundbeleuchtung, beides Vorteile im Vergleich zum Remarkable 2. Anders gesagt: Am Bildschirm gibt es nichts auszusetzen.

Das gilt generell auch für die restliche Verarbeitung des Geräts, dass der seitliche Rahmen mit der Frontabdeckung nicht nahtlos abschließt, womit sich an dieser Stelle nach und nach Schmutz ansammelt, ist allerdings ärgerlich. Ein weiterer Minuspunkt ist die fehlende Abdichtung gegen das Eindringen von Wasser, so etwas wäre für ein oft im Urlaub oder auch im Bad genutztes Gerät wie einen E-Reader durchaus wünschenswert.

Der große Bildschirm hat logischerweise den Vorteil, dass selbst kleinteilige PDFs, aber auch Comics sehr gut zur Geltung kommen – zumindest wenn man ohne Farben auskommen kann. Umgekehrt ist aber nicht zu leugnen, dass der Kindle Scribe für einen E-Reader schon ziemlich groß (229 x 196 x 5,8 mm) und vor allem schwer ist.

Ein echtes Schwergewicht

Das Gewicht von 433 Gramm kommt beinahe an ein iPad heran, das längere Halten in einer Hand kann entsprechend rasch ermüden. Zum Vergleich: Der Kindle Paperwhite kommt auf gerade einmal 205 Gramm, der normale Kindle wiegt gar nur 158 Gramm. Zumindest bietet der Kindle Scribe auf einer Seite einen breiteren Rahmen an, um das Gerät besser greifen zu können. Die Ausrichtung des Displays lässt sich dabei übrigens drehen, damit das sowohl für Links- als auch Rechtshänder passt.

Mitten in der Amazon-Welt

Angeheftete Notizen zu Dokumenten können auch in Handschrift verfasst werden.
Foto: Amazon

Die größte Stärke des Kindle bleibt aber die Anbindung an die Services von Amazon selbst, das Angebot des zugehörigen E-Book-Stores ist einfach riesig. Umgekehrt kann durchaus verärgern, wie sehr die Software auf den Kauf sämtlicher Inhalte bei Amazon selbst ausgerichtet ist – und dabei geht es nicht nur um die ziemlich aufdringliche Bewerbung der Abodienste Kindle Unlimited und Audible.

Zwar gibt es sehr wohl die Möglichkeit, PDFs oder ePub-Dateien anzuzeigen. Dass Amazon noch immer dazu rät, diese via Mail zu verschicken, um sie auf das Gerät zu bekommen, grenzt aber an Hohn. Sollte man doch meinen, dass es bei Amazon die eine oder andere Person gibt, die ein bisschen Ahnung von Cloud-Diensten hat. Als Update soll in ein paar Monaten zumindest die Möglichkeit folgen, aus Word heraus direkt Dateien an den Kindle zu schicken.

Bleibt die Option, entsprechende Dateien via USB-C-Anschluss manuell auf das Gerät zu kopieren, insofern ist dieses Thema auch nicht mehr die ganz große Hürde. Vor allem aber wollen wir nicht gleich so undankbar sein, immerhin wurde der ePub-Support erst vor einigen Monaten – nach jahrelanger Kritik – eingeführt, und das ist tatsächlich viel wert. Der lokale Speicherplatz fällt in der Basisausführung mit 16 GB recht überschaubar aus, es gibt aber auch Varianten des Geräts mit 32 und 64 GB.

Dauerläufer

Die Akkulaufzeit des Kindle Scribe ist hervorragend, lässt sich aber nur grob umreißen – da sie einfach zu lang ist, um sie in einem üblichen Testzeitraum überhaupt erfassen zu können. Zudem variiert sie natürlich massiv je nach individueller Nutzungsintensität, mehrere Wochen kommt man aber locker mit einer Ladung durch.

Der Stift soll den Unterschied machen

Der Kindle Scribe ist aber eben nicht nur ein E-Reader, sondern er ist auch ein digitaler Notizblock. Über den mitgelieferten Stift können also beliebige Notizen gemacht und in Notizbüchern organisiert werden, dabei steht auch unterschiedliche Linierung zur Wahl. Zudem ist es möglich, in Büchern oder auch PDFs und anderen Dokumenten Passagen zu markieren und mit Anmerkungen zu versehen, wobei Letzteres dann übersichtlich zusammengefasst wird.

Doch zum Stift selbst: Hier sind zwei Optionen verfügbar, eine Basisausführung sowie eine Premiumvariante, für die dann noch einmal 30 Euro mehr zu bezahlen sind. Dafür bekommt man dann zusätzlich einen eigenen Radierknopf an der Rückseite sowie einen Button, um schnell zwischen unterschiedlichen Modi wechseln zu können – etwa vom Schreiben auf Markieren.

Guter Start

Das Schreibgefühl ist hingegen gleich, und in dem Fall gleich gut. Ähnlich wie beim Remarkable 2 wirkt es so, als würde man mit einem Bleistift auf Papier schreiben. Die Spitzen können ausgetauscht werden, was nach einer gewissen Zeit auch notwendig wird, nutzen sie sich doch ab. Einen Akku gibt es nicht, insofern muss man sich auch keine Sorgen ums Aufladen machen, dafür haftet der Stift magnetisch am Gehäuserand des Kindle Scribe.

Sehr viele Lücken

Wer genug zeichnerisches Talent hat, kann auch das mit dem Kindle Scribe ausleben. Ein Vergnügen ist das aber nicht.

So viel zum Erfreulichen, ab hier geht es nun nämlich rasant bergab, die Liste an Funktionen, die man in diesem Zusammenhang vermisst, ist nämlich lang. Das beginnt damit, dass der Stift nicht druckempfindlich ist, die Dicke einer Linie kann also rein über ein paar fix vorgegebene Größen manuell bestimmt werden. Der Schreibwinkel hat ebenfalls keinerlei Einfluss auf das Ergebnis, und es kann nur zwischen ein paar wenigen Spitzenarten gewählt werden.

Auch sonst sind die Gestaltungsmöglichkeiten ziemlich rudimentär. Die Möglichkeit, Elemente zu verschieben oder gar Ebenen zu nutzen, sucht man vergeblich. Wer also mit so einem Gerät auch ein bisschen zeichnen will, wird mit dem Kindle Scribe kaum glücklich werden. Von den Möglichkeiten des Remarkable 2 ist das meilenweit entfernt.

Hoffen auf ein Update?

Für die breite Masse an Nutzern aber wohl noch relevanter: Es gibt keinerlei Handschriftenerkennung. Amazon verspricht zwar, diese Funktion als Update nachzureichen, aber ganz ehrlich: Dass der Kindle Scribe ohne ein dermaßen zentrales Feature ausgeliefert wird, ist – freundlich formuliert – verwunderlich.

Lieblos

Das passt allerdings zum restlichen Eindruck der Software. Wirkt es doch so, als hätte man die Notizfunktionen ziemlich lieblos zur gewohnten E-Reader-Oberfläche dazugeheftet. Der Wechsel zwischen E-Reader und Notizbuch ist eher mühsam, manche Funktionen sind fast schon versteckt. Amazon sollte insofern die Oberfläche noch mal grundlegend überdenken, wenn daraus ein konsistentes Ganzes entstehen soll.

Dazu passt auch, dass im Test der eine oder andere seltsame Bug aufgetreten ist, es etwa nicht möglich war, den einfachsten Weg des Setups – über die zugehörige Smartphone-App – zu nehmen, da dort schlicht nie das passende WLAN angeboten wurde.

Eckdaten und Rundumblick des Kindle Scribe.
Foto: Amazon

Fazit

Beginnen wir mit dem Positiven. Wer einfach nur einen sehr guten E-Reader mit großem Display sucht, der ist beim Kindle Scribe hervorragend aufgehoben. In Hinblick auf jene Fähigkeiten, die ihn von anderen Kindles abheben, schrammt das neue Modell aber nur knapp an der Formulierung "Reinfall" vorbei.

Zu unfertig wirkt die Software, zu schwach die Funktionalität im Vergleich zur Konkurrenz – gerade was das Zeichnen anbelangt. Amazon verspricht zwar Updates, die zumindest einen Teil dieser Defizite ausräumen sollen, aber ganz ehrlich: Mit dem Vertrauen auf irgendwann später vielleicht kommende Updates sollte niemand irgendein Gerät kaufen, das zeigt die langjährige Erfahrung.

Dazu kommt, dass, wer einen reinen E-Reader sucht, oft mit kleineren und somit vor allem leichteren und auch günstigeren Varianten wie dem Paperwhite-Modell besser bedient ist. Im aktuellen Zustand wirkt der Kindle Scribe so jedenfalls wie ein ebenso ambitioniertes wie unausgegorenes Produkt, bei dem es selbst für die meisten Interessenten wohl besser ist, auf die zweite Hardwaregeneration zu warten. (Andreas Proschofsky, 23.12.2022)