Noch marschieren unsere Zwerge hoffnungsfroh einer blühenden Zukunft entgegen.

Foto: Bay 12 Games

Meine Zwerge sind voller Dreck, sie stinken, haben Krankheiten und sind unzufrieden. Doch zur Revolte gegen meine Schreckensherrschaft kommt es erst gar nicht. Nicht weil ich ihre Lebensverhältnisse verbessere, nein. Die Zustände in meiner Zwergenfestung sind so miserabel, dass sie viel zu schwach sind, um sich gegen mich zu erheben. Stattdessen fallen sie der Reihe nach tot um, spuken als Untote durch die Gänge und erschrecken die verbliebenen Bewohner. Und warum wachsen neben meinem Handelsposten eigentlich gruselige Dämonenaugen aus dem Boden? Was zur Hölle ist hier los?

Dabei hat "Dwarf Fortress" so schön begonnen: Sieben hoffnungsvolle Zwerge machten sich mit ihrem vollgefüllten Wagen auf, um eine neue Kolonie zu gründen, eine mächtige Festung in den Bergen zu errichten, zu den besten Handwerkern und Bergbauern der ganzen Welt zu werden. Sie wollten eine richtige Industrie errichten, Artefakte von unglaublichem Wert erschaffen, sich Goblins und noch größeren Gefahren heldenmutig entgegenstellen, ja die Lava aus der Erdkruste selbst sollte mit ihrem unendlichen Feuer die genialen Maschinen antreiben. Stattdessen liegen sie im Dreck, weil sie von einer Schlange gebissen wurden, halb verhungert, wütend und mittellos, weil ihr Anführer krachend gescheitert ist. Das macht aber nichts, denn "Dwarf Fortress" bringt das Kunststück fertig, dass das unausweichliche Scheitern Spaß macht. Es erhebt den Kontrollverlust zum Spielelement.

20 Jahre in der Entwicklung

Das Spiel gehört zu den in den vergangenen Jahren recht populär gewordenen "Colony Sims". Diese Games verstehen sich nicht wie klassische Aufbauspiele darauf, ein Imperium zu bauen, stattdessen geht es mehr um das Mikromanagement: Zuerst brauchen die Bewohner Obdach, Wasser und Nahrung, später lernen sie Ackerbau und Viehzucht. Die Probleme werden komplexer, etwa wenn ein Bewohner eine Beinprothese braucht, oder eine Liebesbeziehung zwischen den Kolonisten scheitert und dicke Luft herrscht. Spiele wie "Rimworld", "Oxygen not Included" oder auch "Frostpunk" stellen den Überlebensaspekt voran. So auch "Dwarf Fortress", das man auch als Urvater des Genres bezeichnen darf – und das, obwohl es erst vor kurzem erschienen ist.

Bis die Zwergenfestung komplexer wird, vergehen viele Spielstunden.
Foto: Bay 12 Games

Tatsächlich ist "Dwarf Fortress" seit über 20 Jahren in Entwicklung. Hinter dem Entwicklerstudio Bay 12 Games stehen die beiden Brüder Tarn und Zach Adams, die in ihrer Liebe zu Fantasy-Stoff wie "Dungeons and Dragons" im hobbymäßigen Programmieren von Videospielen Ausdruck verliehen. Im Oktober 2002 begann das Brüderpaar die Arbeit an "Slaves to Armok: God of Blood Chapter II: Dwarf Fortress", wie das Spiel offiziell heißt und vier Jahre später stellten sie die erste spielbare Alpha zum Download bereit. Ein großer Erfolg wurde "Dwarf Fortress" nicht, zu sperrig war der Einstieg, die nur aus ASCII-Zeichen bestehende Spielwelt erinnerte an Textadventures der frühen 80er. Doch nun, 2022, haben die Brüder das Spiel um gezeichnete 2D-Grafiken aufgehübscht, eine Maussteuerung hinzugefügt und die finale Fassung veröffentlicht – und sich selbst damit zu Millionären gemacht. Denn "Dwarf Fortress" wurde beinahe über Nacht zum Hit.

Einarbeitungszeit ist nötig

Das Tutorial zeigt zwar einige wichtige Funktionen des Spiels, kratzt aber nicht einmal an der Oberfläche dieses Komplexitätsmonsters. Zwar lernt man, wie man Tunnel in den Berg gräbt und die ersten Tage im Dasein als Expeditionsleiter einer Zwergensippe überlebt, aber mehr schon nicht. Das ist auch Teil des Erlebnisses: Herauszufinden, wie man seine Zwerge am besten einsetzt, wer welche Begabungen und Talente hat und wer so ein schlechter Koch ist, dass man ihn am besten nicht in die Küche lässt, macht einfach Spaß. Es "Dwarf Fortress" ist vom ersten Moment an eine magische Entdeckungsreise in eine Festung, die man selbst immer weiter ausbaut.

Nicht dass die Komplexität manchmal nicht auch übertrieben anmutet: Will man seinen Zwergen neue Kleidung spendieren, muss man zuerst Tiere scheren, Fäden spinnen, diese zu Stoff verweben, färben, und dann erst geht der Schneider ans Werk und fertigt dem Minenarbeiter ein paar neue Socken. Das alles passiert, ohne dass man als Spielerin oder Spieler seine Zwerge direkt kontrollieren könnte. Man kann lediglich Arbeitsaufträge vergeben, die dann von Zwergen erfüllt werden, so sie nicht gerade mit anderen Aufgaben wie dem nackten Überleben beschäftigt sind.

Die bescheidenen Anfänge einer Zwergenkolonie.
Foto: Screenshot, Bay 12 Games

Die zur Verfügung stehenden Arbeitsaufträge zu verteilen und den richtigen Job für die Zwerge zu finden, ist ein eigenes Spiel im Spiel. Ein Zwerg mag ein guter Juwelenschleifer sein, während ein anderer besser als Fischer aufgehoben ist, aber sonst überhaupt nicht mit Tieren umgehen kann. Weist man einem völlig ungeeigneten Zwerg einen Beruf zu, dem er nicht gewachsen ist, wird er im besten Fall unzufrieden – oder er löst im schlimmsten Fall ein Ereignis aus, das die ganze Kolonie ausrottet. Dabei entstehen Geschichten, wie sie nur "Dwarf Fortress" erzählen kann.

Wer den Survival-Sim-Klassiker "Rimworld" gespielt hat, der kann zumindest einen kleinen Startvorteil für sich verbuchen: Das Management von Lagerzonen oder das Sammeln von Beeren sowie das Konstruktionsmenü funktionieren in "Dwarf Fortress" ganz ähnlich wie im Hit aus dem Jahr 2013. Hat man eine Kolonie erst einmal über einige Winter gebracht, zieht die Komplexitätsschraube noch einmal an: Maschinen wollen konstruiert und Abläufe automatisiert werden und ganze Magmaflüsse werden reguliert, damit sie die Zwergenschmieden antreiben. Damit die bärtigen Zeitgenossen nicht schmutzig herumlaufen müssen, kann man sogar eine automatische Duschanlage konstruieren, die die Bewohner laufend mit einem sanften Nebel besprüht, während sie arbeiten. Es ist schwer, sich ein noch komplexeres Strategiespiel auszumalen als "Dwarf Fortress".

Ein wahres Komplexitätsmonster, im Guten wie im Schlechten

Genau darin liegt auch einer von zwei großen Kritikpunkten: "Dwarf Fortress" ist nichts für jedermann und kein Spiel für zwischendurch. Man muss als Spielerin oder Spieler schon ein Faible für Colony-Sims haben und gleichzeitig nicht davor zurückschrecken sich durch das Wiki zu wühlen, nur um herauszufinden, wie man Kühe melkt. Man sollte auch einiges an Frusttoleranz mitbringen, denn die eigene mühevoll aufgebaute Zwergenkolonie scheitern zu sehen, ist ein Teil des Spielkonzepts. Dafür gelingt "Dwarf Fortress" das Kunststück, selbst bei Fehlschlägen Freude auf den nächsten Versuch aufkommen zu lassen, der dank des soeben Gelernten hoffentlich besser funktioniert.

Die Menüs (hier die Bewohnerverwaltung) sind leider kein Highlight.
Foto: Bay 12 Games

Das zweite große Problem von "Dwarf Fortress" ist das Interface. Zwar wurde dem Spiel für die Releasefassung eine grafische Oberfläche spendiert, diese ist mit verschachtelten Menüs, nicht immer klaren Funktionen und spärlichen Hilfetexten aber wenig nutzerfreundlich. Ständig hat man das Gefühl selbst bei profanen Tätigkeiten wie beim Einrichten eines Schlafzimmers immer zwei, drei Mausklicks zu viel zu brauchen. Dazu kommt eine Suchfunktion, die sich partout weigert, den gefragten Menüeintrag auch tatsächlich zu finden.

Dafür findet man hinter den Karteireitern auch die Logs, in denen die irrsten, unterhaltsamsten und bizarrsten Geschichten aus dem prozedural generierten Leben der Kolonie-Zwerge erzählt werden. Hier spielen sich Liebesdramen ab, Feinde werden en détail zerschmettert, aber auch beiläufige Gespräche zwischen Zwergen werden dokumentiert. Diese Geschichten mitzuerleben macht "Dwarf Fortress" einzigartig.

Fazit: "Dwarf Fortress" ist ein Meisterwerk für Nerds

Das Management der Zwergenfestung ist eine beinahe nie enden wollende Aufgabe. Wen die monströse Komplexität nicht abschreckt, wer sich gerne in Spiele einarbeitet und wer gerne scheitert, um aus Fehlern zu lernen, den wird "Dwarf Fortess" begeistern. Nicht nur für ein paar Stunden, sondern vermutlich für viele Jahre. Es könnte sogar das letzte Game werden, das man spielen möchte und für immer die Spitze der Management-Games sein.

Wer schnelle Erfolge sucht und eine ständige Belohnungsspirale braucht, um Spaß aus einem Game zu ziehen, sollte dagegen einen großen Bogen um "Dwarf Fortress" machen, denn diesem Typ Gamer wird sich die Faszination dieses Titels nie erschließen können. Wer nur abends nach der Arbeit und wenn die Kinder im Bett sind, schnell eine Stunde zum Zocken im Terminkalender freischaufeln kann, wird wohl an der Komplexität scheitern. Kurz: "Dwarf Fortress" ist eines der besten Spiele des Jahres, wenn man sich darauf einlassen kann. Diese Einarbeitungszeit belohnt "Dwarf Fortress" mit einem der faszinierendsten Spielerlebnisse der letzten Jahre.

"Dwarf Fortress" ist für PC via Steam erhältlich und kostet 28,99 Euro. (Peter Zellinger, 30.12.2022)