Der Umgang mit Corona war in den verschiedenen Ländern recht unterschiedlich. In der Anfangsphase der Pandemie schauten viele relativ neidvoll nach China. Mit drakonischen Maßnahmen schien es der KP gelungen zu sein, den Ausbruch von Wuhan in den Griff zu bekommen. Die Grenzen wurden geschlossen, die Einreise in die Volksrepublik war nur noch unter Einhaltung strengster Test- und Quarantänevorschriften möglich.

VIDEO: Deutsche Staatsbürger in China können künftig mit Corona-Impfstoffen deutscher Hersteller geimpft werden. Die Bundesregierung hat nach eigenen Angaben bereits eine erste Lieferung von Biontech-Impfstoff nach China geschickt. Sie bemüht sich darum, dass auch andere Ausländer dort ein Impfangebot mit dem Vakzin erhalten
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Doch wer einmal drin war, der erlebte ein Land, in dem das Leben und die Wirtschaft weitgehend normal liefen. Im Herbst 2020 waren die Bars und Cafés im französischen Viertel Schanghais gut gefüllt. Selbst in Clubs wurde getanzt, während in Europa über den nächsten Lockdown diskutiert wurde. "Zero Covid" sei sogar gut für die Wirtschaft, propagierten Vertreter dieser Ideologie auch im Westen.

"Man wollte sich mit der strikten Zero-Covid-Politik Zeit erkaufen", sagt Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking. Den hohen menschlichen Kosten in Form massiver Freiheits- und Grundrechtseinschränkung stand zumindest vermeintliche Sicherheit gegenüber. Und tatsächlich: Die globalen Lieferketten funktionierten. In den Fabriken im Perlfluss- und Jangtse-Delta wurde auf Hochtouren produziert. Die Käufer im Westen saßen im Lockdown. "Nur hat man diese Zeit nicht genutzt", sagt Wuttke.

Testen und Einsperren – das war lange Zeit Chinas Corona-Politik. Das hat die Bevölkerung und die Wirtschaft stark belastet. Über die Gründe für die strengen Vorgaben wird gerätselt.
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Absurdität und ihre Folgen

Wann genau sich erste Absurditäten dieser Politik offen zeigten, ist nicht ganz klar. Vielleicht war es im Frühjahr, als sich plötzlich Containerschiffe im Gelben Meer stauten. Hafenarbeiter waren positiv auf das Virus getestet worden, also wurde ein Lockdown über die größten Containerhäfen der Welt verhängt. Schiffe stauten sich und damit auch Waren. Wenn Lieferketten nicht mehr einwandfrei funktionieren, steigen die Kosten. Wenn Produkte teurer werden, schnellt die Inflation in die Höhe – zumindest im Westen, wo man zeitgleich begann, die Bevölkerung zu impfen. Zudem entwickelte sich mit Omikron eine Virusvariante, die weniger gefährlich, dafür aber ansteckender ist.

Während der Westen nach den Lockdowns nach und nach wieder öffnete, änderte China nichts an seiner Strategie. Im Gegenteil – während die Fallzahlen nun nach oben gingen, ließ man überall im Land sogenannte Fangcang-Krankenhäuser errichten, spartanische Lager, in denen jeder, der einen positiven Corona-Test aufweist, mehrere Wochen verbringen muss. Wann immer eine Häufung von Fällen auftritt, erscheinen Hunderte von "Da Bai" und riegeln Stadtviertel für mehrere Tage oder Wochen ab.

Gesichtslose Wachmenschen

"Da Bai" bedeutet "Großer Weißer" und hat sich als Name für die unzähligen gesichtslosen Wachmenschen eingebürgert, die Chinas bizarre Zero-Covid-Politik umsetzen sollen. Wie viele Leute in der Volksrepublik gerade so ihr Geld verdienen, weiß man nicht. Lange wurde gerätselt, warum Xi Jinping so starr an dieser Politik festgehalten hat. Sind die Lockdowns möglicherweise dazu gedacht, politische Gegner und Demonstranten in Schach zu halten?

Vielleicht, aber eine schnelle Öffnung der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt würde den Ölpreis und damit die Inflation noch viel höher treiben. Traut die chinesische Regierung den westlichen mRNA-Impfstoffen nicht? Offensichtlich, denn Peking lässt ältere Chinesen sehr wohl impfen – zumindest mit heimischen Impfstoffen. "Ausländische mRNA-Impfstoffe will man nicht nutzen, und nun hat man zusätzlich das Problem, dass durch die zahlreichen Maßnahmen die Immunsysteme der Menschen heruntergefahren sind", sagt Wuttke. "Lockerungen in der derzeitigen Situation können sich deswegen schlimm auswirken."

In Ideologie verrannt?

Oder haben sich Xi Jinping und seine Führungsclique schlicht in eine Ideologie verrannt und konnten lang nicht mehr zurück, ohne einen Fehler eingestehen zu müssen? Vielleicht liegt die Erklärung auch in einer Kombination aller Punkte.

Xi Jinping schlug einen sehr eigenwilligen Weg zur Covid-Bekämpfung ein. Das fällt dem Land nun auf den Kopf.
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Gezeigt hat sich aber auch, dass die Maßnahmen letztlich die wirtschaftliche Entwicklung im Reich der Mitte selbst stark getroffen haben. Nach Einschätzung der Investmentbank Nomura war zuletzt mehr als ein Fünftel des gesamten chinesischen Bruttoinlandsprodukts von Abriegelungen betroffen, eine Zahl, die die Größe der britischen Wirtschaft übersteigt. Um 3,2 Prozent wird China dieses Jahr wachsen – so wenig wie seit 40 Jahren nicht mehr und weit unter dem offiziellen Ziel von fünf Prozent. Und nebenbei hat der Zero-Covid-Komplex ein Eigenleben entwickelt: Allein die gewaltige PCR-Test-Industrie soll dieses Jahr 250 Milliarden US-Dollar umgesetzt haben, zumindest schätzt das die Beratungsfirma Soochow Securities. Das wären 1,2 Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung. Hunderttausende dürften Arbeit als Da Bai gefunden haben.

Wie viele es tatsächlich sind, weiß man nicht. Doch der Druck wuchs – von mehreren Seiten – und entlud sich in Protesten. Im Apple-Zulieferwerk Foxconn in der chinesischen Provinz Zhengzhou kam die Produktion ins Stocken und die Belegschaft im November in Wallung. Fehlende Zahlungen lösten wilde Proteste aus, die Bilder gingen um die Welt. Das Foxconn-Werk in Zhengzhou beschäftigt rund 200.000 Mitarbeiter, die 80 Prozent aller iPhones 14 zusammenschrauben. Kommt diese Produktion ins Stocken, spüren das die Apple-Stores auf der ganzen Welt. Apple sollen die Proteste und Verzögerungen eine Milliarde US-Dollar pro Woche kosten.

Zwar hat die Bevölkerung lange mitgespielt, doch im Endeffekt hat sie die Regierung zu einem Richtungswechsel bewogen.
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Proteste zeigen Wirkung

Und dann ging alles ganz schnell. Als in Urumqi, der Hauptstadt der Region Xinjiang, ein Feuer in einem Wohnhaus ausbrach, befand sich die Stadt seit mehr als 100 Tagen im Lockdown. Aufgrund diverser Straßensperren kamen die Löschfahrzeuge zu spät zum Einsatzort, zehn Menschen kamen beim Brand ums Leben. Kurz darauf gingen in Schanghai, Peking und nahezu allen größeren chinesischen Städten Menschen auf die Straße und demonstrierten gegen die Zero-Covid-Politik der Regierung. Es waren die größten Demonstrationen im Land seit den Studentenunruhen in Peking im Jahr 1989. Das Regime legte eine Kehrtwende hin, die Zero-Covid-Politik wurde gelockert. Die Folgen für die Weltwirtschaft ebenso wie für die gesundheitliche Lage innerhalb Chinas? Völlig unklar.

Bis Jänner 2023 will man nun 90 Prozent der über 80-Jährigen geimpft haben. Die Lockerungen könnten zu einer massiven Zunahme an Erkrankungen führen. Manche Modelle rechnen mit bis zu einer Million Toten, die nun drohen könnten. Apple hat im Dezember angekündigt, die Verlagerung seiner Lieferketten aus China zu beschleunigen, wie auch immer die Covid-Politik genau weitergehen wird. Als zuverlässiger Partner gilt China jedenfalls heute nicht mehr. (Philipp Mattheis, 23.12.2022)