Freund Joseph Brodskys und unverwechselbare Stimme der osteuropäischen Poesie: Tomas Venclova (85).

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Manchmal, gar nicht so selten, sind die Belange der Weltpoesie in den Händen kleiner Sprachfamilien besonders gut aufgehoben. Der Lyriker Tomas Venclova schreibt litauisch: Sein Idiom gehört zu den indogermanischen Sprachen und wird von drei Millionen Menschen gesprochen.

Die Eignung des Litauischen für dichterische Zwecke beruht nicht unbedingt auf seiner überbordenden Klangfülle. Venclova, der 85-jährig, nach Jahren des Exils in den USA, heute wieder in Vilnius lebt, nennt die Sprache seiner Väter ein dankbares Werkzeug. Mit ihren schmiegsamen Verben lassen sich "hunderte Arten von Handlungen und Zuständen erfassen": Das "unglaublich verworrene System" der litauischen Betonungen erzeuge hingegen – mit Blick auf die Länge der Silben – die Anmutung antiker prosodischer Pracht.

Die vermeintliche Randlage Litauens im Norden Europas hat Venclova keinesfalls daran gehindert, Kontakt zu halten mit Ausdrucksformen ältester Überlieferung. Der Dank für unschätzbare Transferdienste gebührt dem Österreicher Cornelius Hell, der einen essenziellen Auszug aus Venclovas lyrischem Spätwerk ebenso virtuos wie lapidar übersetzt und in Buchform gebracht hat. Variation über das Thema Erwachen belegt, in welch eindrucksvoller Nähe der litauische Dichter zu den berühmtesten Modernisten Russlands steht: zu Ossip Mandelstam, zu Anna Achmatowa.

Stätten der Müdigkeit

Unvergessen die poetische Blutsbrüderschaft mit Joseph Brodsky. Venclova verfügt über den herberen Ton, er sinnt und singt sachhaltiger, redet unverklausuliert. Bereits in den Ruinenlandschaften des Sowjet-Kommunismus schien alles Künftige enthalten. In den Brachen des Terrors, Stätten von Müdigkeit und Stillstand, entdeckte Venclova, ein Orpheus aus Klaipėda (dem früheren Memel), Zeichen des Übergangs. Oder doch wenigstens die Fußspuren von Polyphem, den Nachhall zeitgenössischer Stimmen in des erblindeten Zyklopen Ohr.

Antike Mythen, Figuren aus disparaten Sphären, bilden die Grundlage für Ortserkundungen. In ihnen wird Arkadien mit Rumänien kurzgeschlossen. Oder die Sirenen träufeln dem Schläfer am Schiffsmast den Honig trügerischer Hoffnung ins Ohr: "Doch die Erde atmet, es duftet Jasmin, und / der Mensch lernt sein Unglück vergessen."

Die Nacht des Transfers, des ungehinderten Grenzübertritts am 9. November 1989 in Berlin, bezeichnet ein Geraderücken: "Von dieser Stunde an kehrten Wahrheit und Lüge auf ihre Plätze zurück, / und wir mussten alles auf der Welt von Grund auf neu lernen." Venclova hat es sich, mit Rücksicht auf die Wahrheit, schwer gemacht. Sein Vater Antanas, selbst Dichter und Stalin-Preisträger, gehörte der Sowjet-Elite an. 1975, vier Jahre nach dem Tod seines Erzeugers, bat Venclova das Zentralkomitee der Litauischen Partei, ihn und seine Frau ausreisen zu lassen. Er verließ sein Land 1977 auf Einladung des polnischen Kollegen Czesław Milosz: um fortan, bis zur Emeritierung, als Professor für Slawische Literaturen in Yale zu unterrichten.

Tomas Venclovas Gedichte bemühen unterschiedlichste Reim- und Strophenformen – und wirken in ihrer stillen, geradezu bedächtigen Bravour vollendet unrhetorisch. Seinen Auszug aus der Sowjet-Sphäre begründete der Dichter, selbst Mitglied des Helsinki-Komitees, in einem Abschiedsbrief an die KP Litauens unter anderem wie folgt: "Die kommunistische Ideologie ist mir fremd und – meiner Meinung nach – zu großen Teilen falsch. Ihre absolute Herrschaft hat manches Unglück über unser Land gebracht."

Es gehört zu den Pflichten des Poeten, den Dingen des Lebens eine "ziellose Treue" zu bewahren. Venclovas Poeme enthalten "das Rauschen eines seit langem verstummten Meeres / das noch immer an unser Gehör dringt". Sie stoßen, auch dank Hells Übersetzung, "Fenster zu einem unsichtbaren Stern auf". Mehr mag einem Dichter hienieden kaum gelingen. (Ronald Pohl, 23.12.2022)