Natürlich können Sie auch einfach losrennen. Das geht immer. Das ist ja das Gute, Praktische und Schöne am Laufen: dass es so einfach ist. Schuhe an – und: los!

Wenn sie "Laufen" nur über Form und Dauer der Bewegung definieren, wird das auch genügen. Man kann auch einen Marathon um den Häuserblock rennen. Oder im Innenhof. Zehn Kilometer im Kreisverkehr oder um den Küchentisch: Dass das geht, wissen wir. Es wurde hier auch schon beschrieben. Eh lustig.

Foto: Tom Rottenberg

Nur geht es beim Laufen meist auch um das, was rundherum passiert. Um das, was zu sehen, zu hören, zu riechen ist. Erst recht anderswo.

Auch weil durch das Laufen Städte, Regionen, Landschaften nicht nur sicht-, sondern auch spürbar werden: Laufend ist man schnell genug, um in kurzer Zeit mehrere Bilder und Bühnen zu durchwandern. Aber auch langsam genug, um Verzahnungen und Bruchlinien zu spüren – weil kurz selbst Teil des Bühnebildes, der Inszenierung ist: Schon auf dem Rad ist man dafür zu schnell. Per Bus oder U-Bahn wird aus Flow eine On-off-Diaschau. Und im Auto ist man abgekapselt.

Foto: Tom Rottenberg

Genau das macht Laufen anderswo so spannend – und lehrreich: Wiens Planungsdirektor sagte mir einst, dass er versucht, jede Stadt, die er dienstlich besucht, auch zu belaufen. Nicht nur um den Kopf fürs Arbeiten freizubekommen, sondern auch um sie zu verstehen. Ihren Aufbau, ihre Struktur. Die ihr innewohnende Systematik – und ihre Geschichte: Die Lage von Achsen, Blicken und Routen verrät viel über Ideen und Werte jener, die die Blaupause einer Stadt, ihre Grundraster entworfen haben.

Und die aktuelle Gestaltung, ihre Nutz- und Belaufbarkeit sagt dann viel über ihre Seele aus.

Foto: Tom Rottenberg

Die Frage lautet auch, wie der Besucher, wie die Besucherin Laufrouten findet. "Einfach los" ist möglich, lustig und interessant – aber "nackt" kann Losrennen auch zum Flop werden: Statt Parks und Prunkbauten Industrie- und Gewerbebauten zu erleben hat natürlich auch seinen Charme – aber die Vermutung, dass Wien-Besuchende der Canalettoblick mehr begeistert als der Gürtel, ist wohl nicht substanzlos. Nur: Da reicht einmal falsch abbiegen.

Foto: Tom Rottenberg

Klar tut das in dieser Form keiner oder keine. An Hotelrezeptionen oder Touristeninfostellen wird die Frage "Wo kann ich laufen?" ja auch meist nicht mehr mit Schulterzucken, sondern einem Griff ins Kartenkisterl unter der Budel beantwortet.

Was mich da stets fasziniert: wenn mir zwei oder drei Laufpläne gereicht werden – und die Frage, was auf den anderen Foldern in der Box sei, mit "Nordic Walking / Wandern / Familienradausflüge in der Umgebung" beantwortet wird. Den Unterschied muss man mir mal erklären. ("Familienradrunden" waren bisher nämlich immer Forstautobahn-Radtrails über höchstens 25 Kilometer.)

Foto: Tom Rottenberg

Tatsächlich stellen die meisten Reisenden die Frage nach Laufrouten anderswo viel früher. Und auch wenn das Finden der besten Strecken längst keine Geheimwissenschaft mehr ist, gibt es für die Planung ein paar Faustregeln und Tools.

Die meisten von ihnen fallen in die Kategorie "eh klar" – doch erstaunlicherweise gehören die Fragen "Wie hast du diese Strecke entdeckt?" und "Wie planst du?" zum Standard-Fragenkatalog, sobald ich hier oder anderswo über Läufe abseits der Hauptallee erzähle.

Egal, ob bei Verwandten im Speckgürtel einer Kleinstadt oder quer durchs morgendliche Montreal.

Meine erste Antwort ist – vor allem im ländlichen Bereich – oft supersimpel: Laufen auf Sicht. Also auf Schlösser, Aussichtswarten oder Nachbarort-Kirchtürme zu – aber nicht auf der Haupt-(Auto-)Achse, sondern über Seitengassen oder Feldwege. Normalerweise tauchen da rasch Wander- oder Spaziergeh-Wegweiser auf. Fertig.

Foto: Tom Rottenberg

Wird es urbaner, ist das Laufroutenfinden trotzdem das Gegenteil von Raketenwissenschaft: Der Blick auf den Stadtplan genügt. Nein, nicht im nahen Navi-Modus, sondern im Überblicksmode: "Parks und Wasser" lautet der Suchauftrag.

Dass Parks gute Laufreviere sind, ist eine No-na-net-Ansage (außer Sie wollen in Wien durch den Botanischen Garten – dort ist Gehen erlaubt, aber Laufen explizit verboten). Aber nur in einem Park im Kreis wäre rasch fad: Der Blick auf die Karte zeigt die kürzesten Verbindungen.

Mein Tipp: von neutralen Kartenansichten auch auf die Verkehrsbelastungsanzeige und Street-View schalten.

Nach diesem ersten Überblick zoomt man dann ein bisserl rein – und sucht nach Radwegen. Nicht, um Radfahrenden im Weg zu sein: Hauptradachsen liegen selten an oder auf Stadtautobahnen. Auch in hügeligen Städten sind sie meist so angelegt, dass ihre Steigungen gut laufbar sind. Außerdem sind sie in der Regel gut und nach regionalen Zielen ausgeschildert – Entfernungsangaben inklusive.

Foto: Tom Rottenberg

Der nächste Schritt wären Trainingsapps. Egal ob Garmin, Strava, Polar oder sonst was: Fast überall kann man sich heute Routen vorschlagen lassen.

Solche, die andere User schon gelaufen sind. Dafür muss man mit denen aber in der Regel online "befreundet" sein. Oder aber man sagt der App grundsätzlich, welche Zeit und Richtung man gerne hätte – und lässt sich überraschen.

Die Planungssoftware greift dann meist auf regional meistgenutzte Strecken und Wege zurück – und bastelt etwas draus. Ich persönlich nutze dieses Tool nie.

Genauso wenig wie jenes, bei dem man der "Abstimmung mit den Füßen" anderer folgt – aber doch selbst entscheidet, wo man abbiegt oder wo es hingeht: Laufen nach "Heatmaps".

Heatmaps zeigen kumulierte "Verkehrsdichten" der ausgewählten Bewegungsform an. Wirklich viel falsch kann man da nicht machen – solange es um zentrale Lagen und wirklich "fette" Achsen geht. Aber was, wenn Sie – beispielsweise – in einem Seminarhotel bei Vöcklabruck sind?

Foto: Screenshot Strava

In solchen Fällen lernt man die Community-Funktionen von Routen-Planungstools schätzen. Eingeschränkt auch, was Strava und diverse Uhrenherstellerapps mittlerweile anbieten.

Eingeschränkt? Routenbasteloptionen haben die mittlerweile alle. Doch was nutzen mir die, wenn ich keine Ahnung habe, wie Strecken, Wege und Highlights in der Umgebung überhaupt aussehen?

Reine Trackingsapps blinzeln zwar in diese Richtung, können aber nicht auf umfangreiche und detaillierte super-regionale Routensammlungen wie Komoot oder Alltrails zurückgreifen: Dort lassen sich über diverse "Explore"-Funktionen nämlich präzise dokumentierte Strecken finden, bei denen von der Wegbeschaffenheit über Höhenprofile bis hin zu mit Fotos dokumentierten Sehenswürdigkeiten oder Rastplätzen alles angeführt wird.

Foto: Tom Rottenberg

Und dann gibt es noch Mark Lowenstein. Der aus Montreal stammende und heute in Boston lebende Kommunikations-IT-Experte hat 2016 die Seite "Great Runs" 2016 aufgesetzt. Als beruflich intensiv reisender "Genuss- und Langsamläufer" (Eigendefinition) erlebte er am eigenen Leib, wie mühsam es ist, sich alle Informationen an jedem Ort ständig neu zusammensuchen zu müssen.

Mit seiner Idee eines Nachschlagewerkes traf er einen Punkt: Mittlerweile nutzen monatlich 250.000 Userinnen oder User die Seite – kostenfrei. Der "Great Runs"-Newsletter des 58-Jährigen hat über 27.000 Abonnentinnen und Abonnenten.

Foto: Tom Rottenberg

Wie viele Städte und Regionen auf Great Runs gefeaturt sind, kann Lowenstein selbst nicht sagen: "Es kommen ja ständig neue dazu", erklärt er stolz – und zwar auf der ganzen Welt. Strukturiert nach Kontinenten, Ländern und Regionen – und dann eben detailliert und kleinräumig-kleinteilig beschrieben.

Nicht bloß nach Städten, sondern auch nach "Funktionalität" oder besonderen Bedürfnissen sortiert und suchbar: "Laufrouten in der Nähe von Flugplätzen" etwa mauserte sich bei Airline-Crews rasch zu einem echten Hit.

Und Rankings wie "Zehn Strandtraumläufe" sind nicht nur Service, sondern sie machen auch Lust aufs Reisen und aufs Laufen.

In der letzten Newsletter-Ausgabe gab es dann die "Zehn schönsten Winterlaufstrecken" – und dass da sowohl Laufstrecken in Kiew als auch in Moskau dabei sind, ist ziemlich sicher kein Zufall.

Foto: Tom Rottenberg

Im Unterschied zu Planungsapps geht es bei "Great Runs" aber immer auch um redaktionelle Inhalte: Die Autorinnen und Autoren, die für Lowenstein laufen und schreiben, stellen meist ein buntes Bouquet jener Routen zusammen, die für Besucherinnen und Besucher am interessantesten und spannendsten sind – und ergänzen diese Sammlung durch Tipps darüber, was für Läuferinnen und Läufer noch wichtig sein könnte: vom Laufshop bis zur Klimakarte – und Hinweisen zu geführten Lauftouren, Site-Running-Anbietern oder Lauftreffs.

Manchmal warnt "Great Runs" aber auch: Es gibt eine Liste an Städten, in denen das Laufen schwer, unmöglich oder unlustig ist. "Das sind Städte, die für oder um das Auto herum geplant worden sind. Städte, in denen es kein funktionierendes öffentliches Verkehrsnetz gibt", erklärt Lowenstein. "Eine Stadt, in der man zu Fuß einkaufen gehen kann, in der es regionale, gewachsene Zentren und Viertel gibt, wo die Menschen Grünraum, Radwege, Park statt Stadtautobahnen haben – das ist eine gute Laufstadt. Im Grunde ist es aber ganz einfach: Eine gute Laufstadt ist eine Stadt, in der man auch gerne leben würde." (Tom Rottenberg, 17.1.2023)


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