Krieg, Inflation, schwindendes Vertrauen in demokratische Institutionen und die zunehmende Polarisierung einer Gesellschaft, die von einer Pandemie gezeichnet ist: Wer Parallelen zwischen heute und den 1920er-Jahren des vorigen Jahrhunderts sucht, wird schnell fündig. Das mag auch erklären, warum sich in den Buchhandlungen aktuell Bücher über die 1920er-Jahre nur so stapeln. Zahlreiche Neuveröffentlichungen widmen sich vor allem einem Jahr: 1923.

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Spielen mit wertlosen Milliarden: Auf dem Höhepunkt der deutschen Inflation 1923 war ein US-Dollar 40 Milliarden Mark wert. Löhne wurden täglich ausbezahlt und möglichst sofort ausgegeben. Ersparnisse lösten sich in nichts auf, große Bevölkerungsteile verarmten.
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In Deutschland ging 1923 als traumatisches Jahr in die Geschichte ein. Eine so gewaltige Krise braute sich damals zusammen, dass die junge demokratische Weimarer Republik unmittelbar vor dem Kollaps stand. Bittere Armut, Wohlstandsverlust und politische Radikalisierung standen auf der Tagesordnung. Das Land drohte in Diktatur oder Bürgerkrieg zu versinken, während die Vergnügungsindustrie mit ausschweifenden Angeboten zur Realitätsflucht boomte wie nie zuvor.

Zeit aus den Fugen

"Die Zeit ist allzu sehr aus den Fugen", schrieb der Romanist Victor Klemperer im Mai 1923 in sein Tagebuch. "Jeder fühlt etwas Bedrohliches in nächster Nähe, niemand weiß, was wird." Dabei stand der chaotische Höhepunkt dieser "Tollhauszeit", wie es der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig formulierte, noch bevor.

Dass die erste deutsche Demokratie nur fünf Jahre nach ihrer Gründung auf ein gewaltsames Ende zusteuerte, lag am komplexen Zusammenspiel vielschichtiger Konfliktlagen. "Die Krise wurde aber entscheidend durch die politische Rechte vorangetrieben, die die Errichtung einer Diktatur anstrebte", sagt der deutsche Historiker Peter Longerich, der mit "Außer Kontrolle. Deutschland 1923" (Molden-Verlag) eine umfangreiche Analyse des Krisenjahres vorgelegt hat.

Folgenreiche Ruhrbesetzung

Am Beginn des Dramas von 1923 stand die Ruhrbesetzung, ein folgenreiches Kapitel im Streit um die deutschen Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg. Im Jänner marschierten französische und belgische Truppen in das Ruhrgebiet ein und besetzten das Zentrum der deutschen Schwerindustrie, um die im Versailler Vertrag festgelegten Verpflichtungen zur Lieferung von Holz und Kohle nach Punkt und Beistrich durchzusetzen.

"Die Krise wurde entscheidend durch die politische Rechte vorangetrieben, die die Errichtung einer Diktatur anstrebte", sagt der Zeithistoriker Peter Longerich.
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Doch die militärische Provokation sorgte nicht für Vertragstreue, sondern für einen nationalen Entrüstungssturm in Deutschland – quer durch die politischen Lager und Gesellschaftsschichten. Die Reichsregierung rief die Bevölkerung zum passiven Widerstand gegen die Besatzer auf, ein Generalstreik sollte Industrie und Verwaltung im Ruhrgebiet lahmlegen und den Abtransport von Gütern verhindern.

Durchlauferhitzer der Krise

Während Gewaltakte zunahmen und die rechtskonservative Regierung unter Wilhelm Cuno Terroristen und rechtsextremen Wehrverbänden freie Hand ließ, spitzte sich die Lage auch ökonomisch immer stärker zu. Um die Löhne der Streikenden weiterbezahlen zu können, wurde die Notenpresse noch mehr angekurbelt als schon bisher. Zugleich brach die Industrieproduktion ein, und Kohle wurde in ganz Deutschland knapp. Aus dem Ruhrgebiet konnte der Heizstoff nicht mehr ins übrige Reichsgebiet geliefert werden. Die Folgen all dessen waren fatal: Die schon seit Jahren andauernde Geldentwertung geriet völlig außer Kontrolle – bis hin zur Hyperinflation.

"Die Ruhrkrise war wie ein Durchlauferhitzer", sagt Longerich. "Die Regierung hat versucht, auf der antifranzösischen Empörungswelle zu reiten, aber sie hatte keinen Plan und keine Vorstellung, wie lange das dauern und welche enormen Kosten es verursachen würde."

Galoppierende Inflation

Nicht nur finanzielle Kosten: Politische Umsturzbestrebungen hatten im Chaos von 1923 Hochkonjunktur. Während Kommunisten die Zeit reif für eine Revolution hielten und Separatisten im Rheinland und in der Pfalz autonome Republiken anstrebten, erkannte man im rechten Lager die Chance, eine Diktatur zu errichten.

Peter Longerich, "Außer Kontrolle. Deutschland 1923". € 33 / 320 Seiten. Molden, Wien 2022
Cover: Molden

Die galoppierende Inflation stürzte immer mehr Menschen in Armut und die Republik in einen grotesken Ausnahmezustand. Geldscheine verloren schneller an Wert, als sie nachgedruckt werden konnten. Familien schleppten Millionen in Waschkörben in die Geschäfte, um das Allernötigste zu kaufen – nur um beim Bezahlen festzustellen, dass die Preise schon wieder gestiegen waren. Im Herbst 1923 kostete ein Laib Brot in Berlin mehr als zehn Millionen Mark.

Wankendes Wertesystem

In Dresden schrieb Victor Klemperer: "Die Geldverhältnisse sind so entsetzlich, dass ich aus der Sorge nicht mehr herauskomme. Die Preissprünge sind so ungeheuer, dass keine Berechnung hält, kein Vorrat reicht."

Die Inflation raffte nicht nur Existenzen dahin, sondern erschütterte auch das traditionelle Wertesystem: Wer hart gearbeitet und für schlechte Zeiten gespart hatte, verlor alles. Wer Geld verprasst und Schulden gemacht hatte, konnte diese durch die Rückzahlung in fast wertloser Inflationswährung loswerden. Die faktische Enteignung eines Gutteils der Mittelschicht und das Zufallssystem aus Gewinnern und Verlierern der Inflation verschärften die Spaltung der Gesellschaft weiter, sagt Longerich.

Indes schwand auch das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit. Im August zerbrach die Regierung. Cunos Nachfolger als Reichskanzler, Gustav Stresemann, beendete angesichts der katastrophalen Lage den "passiven Widerstand" gegen die Ruhrbesetzung im September und nahm die Reparationszahlungen wieder auf. Eine Währungsreform sollte die Mark stabilisieren.

Die radikalisierte Rechte betrachtete das als "Kapitulation" Berlins und sah den Moment für den Umsturz gekommen. Akteure aus Politik, Industrie und Militär verfolgten dabei unterschiedliche Ziele und blockierten einander letztlich gegenseitig. In München entschied der NSDAP-Vorsitzende Adolf Hitler indes, loszuschlagen in der Hoffnung, andere Gruppierungen mitzureißen. Mithilfe rechter Wehrverbände um den Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff und erwarteter Unterstützung aus Politik und Verwaltung sollte die Regierung in Berlin gestürzt und die Demokratie beseitigt werden.

Gescheiterter Putschversuch

Der dilettantisch durchgeführte Putschversuch am 8. und 9. November scheiterte, die NSDAP wurde verboten. Hitler, der zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, verkaufte sich als Märtyrer und die Niederlage als Erfolg, sagt Longerich. Ironischerweise rettete der Putschversuch die Weimarer Republik 1923 gewissermaßen: "Hitler und Ludendorff kamen einem bevorstehenden Staatsstreich von rechtskonservativer Seite in die Quere. Mit dem Misserfolg in München wurden diese schon weit fortgeschrittenen Pläne obsolet."

Dass die erste deutsche Demokratie diese Krise überstand und sich die Lage wieder stabilisierte, sei weniger ein Ergebnis umsichtiger Regierungspolitik als vielmehr Glück gewesen, sagt der Historiker. "Aber die strukturellen Ursachen der Krise waren nicht beseitigt und wurden auch in den folgenden stabilen Jahren nicht wirklich angegangen. Das sollte sich 1933 bitter rächen."

Getriebene Konservative

Welche Lehren für heute lassen sich aus den Ereignissen 1923 ziehen? Die Antwort ist für Longerich banal: "Wenn sich eine Krise aufbaut, muss möglichst frühzeitig gegengesteuert werden." In der historischen Analyse von 1923 lasse sich gut erkennen, wo man hätte abbiegen können: "Spätestens im Frühjahr hätte man den Ruhrkampf abbrechen und den extremistischen Entwicklungen viel stärker entgegentreten müssen."

Der politische Preis wäre hoch gewesen und hätte vielleicht die Regierung gesprengt. Aber nur so wäre die gefährliche Krisendynamik möglicherweise verhindert worden. Dass gemäßigte Konservative stattdessen versuchten, die nationalistische Stimmung für sich zu nutzen und sich rechtsextreme Parolen zu eigen machten, sei verheerend gewesen. "Sie wurden dadurch zu Getriebenen."

Haben wir aus der Geschichte gelernt? "Nein", sagt Longerich. "Wenn wir auf die vergangenen Jahre zurücksehen, war längst alles da, was jetzt offensichtlich krisenhaft zutage tritt: dass es einen russischen Imperialismus gibt, dass wir energieabhängig sind und dass wir durch die Vernachlässigung der Rüstung zu erkennen geben, dass wir nicht bereit sind, uns groß zur Wehr zu setzen." (David Rennert, 25.12.2022)