Gerechtigkeit wird für die eigene Person anders gesehen als für die gesamte österreichische Gesellschaft

Foto: IMAGO/Sascha Steinach

Linz – Ungerechtigkeit prägt das Bild, das die meisten Österreicherinnen und Österreich von ihrem eigenen Land haben. Das geht aus einer in der Vorwoche durchgeführten Market-Umfrage im Auftrag des STANDARD hervor.

Market stellte dazu die Frage: "Geht es in unserem Land alles in allem gerecht zu, also werden die Menschen alles in allem gerecht behandelt, oder ist das nicht der Fall?" Darauf sagten nur 27 Prozent, dass es im Allgemeinen gerecht zuginge. 66 Prozent aber sind vom Gegenteil überzeugt, weitere sieben Prozent trauten sich in dieser Frage kein Urteil zu.

Zum Vergleich: Im Mai 2011, damals regierte Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) und Michael Spindelegger (ÖVP) war gerade Vizekanzler geworden, war die Einschätzung noch halbwegs ausgewogen: 46 Prozent sahen in der ersten Umfrage mit dieser Fragestellung Österreich damals als alles in allem gerecht an, 50 Prozent meinten, das sei nicht der Fall.

Zufriedene ÖVP-Wähler

Sieht man sich die aktuellen Daten an, dann erkennt man, dass nur in der ÖVP-Anhängerschaft eine (knappe) Mehrheit glaubt, dass Österreich ein gerechtes Land wäre. Das Vertrauen in die Gerechtigkeit ist bei jüngeren Befragten stärker ausgeprägt und sinkt mit dem Alter deutlich.

Ob das mit der eigenen Lebenserfahrung zu tun hat? Nicht unbedingt, sagt Market-Institutsleiter David Pfarrhofer. Market fragt in dieser Frageserie immer auch: "Und wie ist das bei Ihnen persönlich, ich meine: in Ihrem eigenen Leben? Werden Sie da alles in allem gerecht behandelt, oder ist das eher nicht der Fall?" Und da stellen die Ergebnisse den Befund der vorherigen Frage praktisch auf den Kopf.

Hohe persönliche Gerechtigkeitserfahrung

71 Prozent sagen nämlich, dass sie selbst durchaus gerecht behandelt würden – das Alter der Befragten spielt bei den Antworten kaum eine Rolle. Wohl aber gibt es einen statistischen Zusammenhang zwischen politischer Grundhaltung und der Wahrnehmung von Gerechtigkeit.

Auch bei der persönlichen Einschätzung sind die Wählerinnen und Wähler der ÖVP besonders zufrieden mit der Gerechtigkeit: 80 Prozent von ihnen fühlen sich gerecht behandelt, ähnlich ist es in den Wählerschaften von Grünen und Neos.

Unter den Anhängern der Sozialdemokratie erleben immer noch drei von vier Befragten eine gerechte Behandlung. Deutlich anders ist das bei den Freiheitlichen: Hier glaubt nur die Hälfte, selbst gerecht behandelt zu werden – die andere Hälfte glaubt auch im persönlichen Erleben überwiegend an Ungerechtigkeit.

Mit einer weiteren Frage ließ DER STANDARD die persönliche wirtschaftliche Lage der Befragten einschätzen. Ein Drittel (34 Prozent) gab an, "im Wesentlichen gut" zurechtzukommen. 41 Prozent müssen sich "ein wenig einschränken". Aber ein starkes Fünftel (21 Prozent) muss sich "sehr einschränken", und drei Prozent sehen sich vor einem finanziellen Desaster – umgelegt auf die Grundgesamtheit der Wahlberechtigten, aus der die repräsentative Stichprobe gezogen wurde, sind das rund 200.000 Personen.

Jene, die mehr oder weniger große finanzielle Probleme beklagen, sehen sich und die Gesellschaft im Allgemeinen als ungerecht behandelt an – und tendieren zur FPÖ.

Wer politische Unterstützung braucht

Es ist eine verschwindend kleine Minderheit von drei Prozent, die von sich selbst sagt, dass ihre speziellen Anliegen und Bedürfnisse zu stark von der österreichischen Politik berücksichtigt würden. Das ergibt eine weitere Auswertung der Dezember-Umfrage des Linzer Market-Instituts für den STANDARD.

Gefragt wurde: "Es gibt ja verschiedene Bevölkerungsgruppen mit speziellen Anliegen und Bedürfnissen. Ich nenne nun einige davon und bitte Sie, jeweils zu sagen, ob die Anliegen dieser Gruppen von der Politik in Österreich eher zu wenig, angemessen oder eher zu stark berücksichtigt werden." Dann wurde den mehr als 800 repräsentativ ausgewählten Wahlberechtigten eine Liste von mehr als 30 Personengruppen vorgelegt. 62 Prozent sagten, dass "Menschen wie ich selbst" angemessen politisch vertreten wären, 24 Prozent sehen sich nicht genug vertreten, und die erwähnten drei Prozent meinen, dass sie besser vertreten wären, als es ihnen eigentlich zustünde. (Die übrigen zehn Prozent machten keine Angabe.)

Pflegende und ihre Klienten

Die Liste lässt sich in unterschiedlicher Weise lesen – und sortieren.

Sieht man sich zunächst an, wessen Interessen als zu wenig berücksichtigt eingeschätzt werden, so landet das Pflegepersonal ganz oben auf der Liste: Sieben von zehn Befragten sehen die professionell Pflegenden als politisch zu wenig berücksichtigt an.

Market-Institutschef David Pfarrhofer: "Hier hat die mediale Berichterstattung der vergangenen drei Jahre viel zur Wahrnehmung beigetragen. Auch die Gewerkschaft hat offenbar nachhaltig Öffentlichkeitsarbeit geleistet, während der verhältnismäßig hohe Kollektivvertragsabschluss der Sozialwirtschaft nichts daran ändert, dass Pflegekräfte als politisch benachteiligt gesehen werden."

Gleich an zweiter Stelle im Ranking der als schlecht vertretenen Personen werden die Pflegebedürftigen gesehen: 59 Prozent sehen sie als benachteiligt an – wobei diese Einschätzung besonders von älteren Personen, die wohl selbst eine künftige Pflegebedürftigkeit vor Augen haben, geteilt wird, wie Pfarrhofer betont.

Betroffenheit spielt mit

Ganz ähnlich stellt sich das Muster bei Mindestpensionisten dar (52 Prozent). Hier spielt zudem die mögliche persönliche Betroffenheit von Menschen mit geringen Einkommen mit – während junge, gut ausgebildete Befragte die Anliegen von Mindestpensionisten eher ausreichend, wenn nicht gar übertrieben gut politisch verankert sehen. An vierter Stelle auf der Liste der Benachteiligten stehen Alleinerzieher und Alleinerzieherinnen (48 Prozent). Auf den Plätzen danach kommen Menschen mit körperlicher (46) oder geistiger (44) Behinderung.

Frauen verspüren Defizite, Männer sehen diese kaum

39 Prozent sehen Frauen benachteiligt – wobei es hier einen deutlichen Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt: 49 Prozent der weiblichen, aber nur 28 Prozent der männlichen Befragten sehen Frauenanliegen schlecht vertreten – etwa jeder achte Mann meint, dass die politische Vertretung der Frauen sogar zu stark wäre. Etwa jeder achte Mann (aber nur jede 17. Frau) meint auch, dass Männerinteressen zu wenig vertreten würden,

37 Prozent (vor allem Befragte mit Kindern im Haushalt) sehen Familieninteressen politisch zu wenig berücksichtigt. Auf demselben Niveau wird die Benachteiligung von Senioren eingeschätzt.

Pfarrhofer: "Angesichts des oft zitierten politischen Gewichts dieser demografisch bedeutenden Gruppe ist es erstaunlich, dass nur etwa jeder elfte Befragte sagt, dass die alten Menschen politisch bevorzugt würden. Das nimmt allenfalls ein – immer noch kleiner – Teil der Befragten unter 30 so wahr."

Wer als bevorzugt gesehen wird

Womit der Blick auf die Reihung der – vermeintlich – politisch zu stark berücksichtigten Gruppen fällt: Ganz oben auf dieser Liste stehen mit 46 Prozent die Zuwanderer – vier von fünf Freiheitlichen, aber auch jeder zweite ÖVP-Wähler sieht die Anliegen der Zuwanderer übermäßig politisch berücksichtigt.

Insgesamt hat diese Einschätzung im Lauf der Zeit noch zugenommen, sagt Pfarrhofer mit Verweis auf frühere Umfragen: "Ganz ähnlich ist es, wenn man fragt, wie muslimische Interessen politisch berücksichtigt werden. Auch da hat die Einschätzung stark zugenommen, dass Muslime bevorzugt würden – was mit der politischen Realität weniger zu tun hat als mit der politischen Einstellung derer, die hier eine zu starke Vertretung der Anliegen sehen."

Zum Vergleich: Nur 13 Prozent (vor allem SPÖ- und Grünen-Wähler) glauben, dass Christen übermäßig berücksichtigt würden.

Freiheitliche Weltsicht ist ganz speziell

Immerhin ein Drittel der Befragten glaubt den Reformen der vergangenen Jahrzehnte zum Trotz weiterhin, dass Beamte zu stark politisches Gehör finden – das sagen besonders viele Freiheitliche, noch stärker verbeißt sich die FPÖ-Gefolgschaft aber in die Vorstellung, dass Transgenderpersonen zu stark Berücksichtigung fänden.

Drei von zehn Befragten meinen, dass Radfahrer zu gut vertreten wären (21 Prozent sagen, sie wären es zu wenig). Bei Autofahrern lautet das Verhältnis 20:20. (Conrad Seidl, 27.12.2022)