Das neue Jahr bringt eine neue Regierung für Bosnien-Herzegowina. Das Chaos aber bleibt.

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Nach den Wahlen am 2. Oktober formiert sich nun auf Staatsebene eine neue Regierung in Bosnien-Herzegowina. Die Vize-Chefin der kroatisch-nationalistischen HDZ, Borjana Krišto wurde bereits zur neuen Ministerpräsidentin der zehnköpfigen Regierung ernannt. Zur Koalition gehören neben der HDZ, auch die serbisch-nationalistisch-sezessionistische SNSD und acht weitere Parteien, darunter die Sozialdemokraten.

Unter anderem auf Wunsch internationaler Vertreter – allen voran der USA – ist die bosniakisch-nationalistische SDA nicht Teil der Regierung. Die SDA soll offenbar dafür "bestraft" werden, dass sie bei den Wahlgesetz-Verhandlungen zu Beginn des Jahres keinen "Deal" mit der HDZ schloss, wie dies die USA und die EU anvisiert hatten.

Kritik an internationaler Einmischung

Die Demokratska Fronta und ihr wichtigster und populärster Repräsentant, Željko Komšić, der im Oktober wieder ins Staatspräsidium gewählt wurde, ist ebenfalls nicht Teil der Koalition. Komšić äußert auch immer wieder offen Kritik an Vertretern der Internationalen Gemeinschaft, zuletzt vor allem am Hohen Repräsentanten, Christian Schmidt, der am 2. Oktober am Wahlabend, die Verfassung und das Wahlgesetz änderte, was von manchen Bosniern und Bosnierinnen als Schlag gegen die Demokratie gesehen wurde.

Komšić brachte die Entscheidungen von Schmidt vor den Verfassungsgerichtshof. Doch dieser hat – anders als datiert – Anfang Dezember noch nicht darüber befunden. In Medienberichten war in der Causa von politischer Einflussnahme auf das Verfassungsgericht zu lesen. Offenbar wollte man in internationalen Kreisen absichern, dass die Regierungsbildung auf Grundlage der Entscheidungen von Schmidt vonstatten geht und hatte Sorge, dass der Verfassungerichtshof, diese wieder ändern könnte, bevor die Koalition steht. Die Maßnahmen von Schmidt entsprechen teilweise den Wünschen der HDZ, die gemeinsam mit der kroatischen Regierung und den USA, Druck auf Schmidt gemacht hatten, in ihrem Sinne zu entscheiden.

Entscheidung aus 2015 ignoriert

Die nächste Plenarsitzung des Verfassungsgerichts steht nun am 19. Jänner bevor. Zu diesem Zeitpunkt könnte möglicherweise über die Verfassungsmäßigkeit der Schmidt`schen Entscheidungen befunden werden. Kritisiert wird vor allem, dass Schmidt eine Entscheidung des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2015 ignoriert. Diese besagt, dass bisher bei der Wahl des Präsidenten und Vizepräsidenten des Landesteils Föderation, Personen, die sich nicht als Bosniaken, Serben oder Kroaten deklarieren, diskriminiert sind. Tatsächlich können Personen, die sich nicht ethnisch-religiös definieren, nicht kandidieren, was der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspricht.

Zusätzliche Spaltung

Schmidt hat jedoch nicht dafür gesorgt, dass dieses Verfassungsurteil umgesetzt wird, sondern sich auf ein anderes, das von der HDZ angestrengt wurde, bezogen, obwohl dieses – laut Verfassungsexperten – längst umgesetzt ist. Kritisiert wird an Schmidts Entscheidungen zudem, dass diese zu zusätzlicher ethnischer Spaltung führen könnten.

Rechtsexperten kritisieren darüber hinaus, dass Schmidt gegen das "Purcell-Prinzip" zur Unveränderlichkeit von Wahlregeln unmittelbar vor den Wahlen verstoßen habe, als auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Ansichten der Venedig-Kommission außer Acht gelassen habe. Schmidt hat zudem zwei verschiedene Volkszählungen – einmal jene aus 1991 und einmal jene aus 2013 – angewandt, was gegen das Daytoner Abkommen verstoßen könnte.

Ruf ruinieren

Bei der Entscheidung am 19. Jänner, könnten nun jene Richter im bosnischen Verfassungsgericht, die vom Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ernannt werden, eine Schlüsselrolle spielen. Die Richter des Verfassungsgerichts werden mit der Entscheidung auch eine Praxis schaffen, die in Zukunft angewendet werden soll. Wenn Schmidts Entscheidungen bestehenbleiben, könnten auch künftig Wahlregeln nach der Wahl mit dem Ziel geändert werden könnten, die politische Ziele einzelner politischer Akteure zu erfüllen, wie dies nun für die HDZ geschah.

Kritik aus dem EU-Parlament

Kritik an den Entscheidungen Schmidts waren bereits kurz nach der Wahl von 27 EU-Abgeordneten gekommen, die ihn aufforderten, die Gesetzesänderungen umgehend zurücknehmen und die ihm mangelnden Respekt für die demokratischen Rechte der Bürgerinnen bescheinigten. Schmidt hatte sich immer mit dem Argument verteidigt, dass er bloß die Blockaden in den Institutionen aufheben wolle.

Inhaltlich hat Schmidt die Anzahl der Delegierten des Hauses der Völker im Landesteil Föderation von 58 auf 80 erhöht. Allerdings hat er durch das "Aufblähen" der eigentlich unwichtigeren Parlamentskammer auch das ethnische Prinzip und damit die ethno-nationalistischen Parteien gestärkt – was die HDZ zuvor gefordert und die USA und die EU unterstützt hatten.

Auslosen mit Plastikeiern

Manche Delegierte müssen nach einem komplizierten Schlüssel aus den Kantonen, in denen anteilmäßig die jeweilige Volksgruppe am höchsten vertreten ist, ausgesucht werden. Mittlerweile ist es jedoch trotz des "Funktionalität-Pakets" von Schmidt zu einer weiter Blockade gekommen. In etlichen Kantonen gab es nämlich zwei Listen mit gleich vielen Stimmen für die Delegierten für das Haus der Völker. Deshalb entschied man sich für ein Losverfahren – aus gelben Plastikeiern in einer Glasschale wurden "Gewinner" gezogen, wie in einer Lotterie.

Die bosniakisch-nationalistische SDA hatte Glück und verfügt nun gemeinsam mit der DF über 13 Delegierte im bosniakischen Klub. Das bedeutet: Die beiden Parteien, die laut dem Koalitionsvorhaben, das von den USA unterstützt wird, gar nicht Teil der Regierung sein sollen, können nun wegen der "Lotterie" mit den Plastikeiern den Präsidenten und Vizepräsidenten der Föderation bestimmen.

Abhängigkeit vom politischen Willen

Gemäß den Änderungen des Wahlgesetzes, die Schmidt durchführte, braucht es nämlich mindestens elf Delegierte in einem Klub der drei Völker, um einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten zu nominieren. Die vorgesehene Koalition verfügt aber nicht über die elf Personen. Damit können die SDA und die DF nun auch die Regierungsbildung auf Föderationsebene blockieren. Wegen dieser Blockade könnte auch Schmidt wieder zur Tat schreiten und neuerlich eingreifen.

Offen ist, ob Schmidt sich bewusst war, dass es trotz seines "Funktionalitätspakets" zu einer neuen Blockade durch die SDA kommen kann – möglicherweise wurde diese Option im Amt des Hohen Repräsentanten einfach übersehen. Die Verfassungs- und Bosnien-Experte Jens Wölk von der Universität Trient und Maja Sahadžić von der Universität Antwerpen schrieben kürzlich auf der Plattform Verfassungsblog, dass es am Ende doch vom politischen Willen abhänge, ob die Reformen funktionierten oder nicht. Schmidts Maßnahmen eröffneten jedoch"keine Chancen für strukturelle Veränderungen, sie zementieren eher das gegenwärtige System", analysieren sie.

Spalterischer Faktor

Gerade weil Schmidts Entscheidungen die HDZ begünstigen könnten und vorher mit dem Nachbarstaat Kroatien abgestimmt waren, bestünde nun zudem die "Gefahr, dass der Hohe Repräsentant von einem Moderator und Vermittler zu einem spalterischen Akteur und Faktor wird", so die Rechtsexperten. "Statt Optionen für eine Verfassungsreform zu diskutieren, wird nun erneut über das Amt des Hohen Repräsentanten und die Bonner Befugnisse debattiert."

Wölk und Sahadžić meinen, dass man 27 Jahre nach Kriegsende statt Hinterzimmerdeals oder internationaler Aufzwingung, die Bürger nach ihrer Meinung zur Zukunft des Landes fragen könnte. "Zumal sie sonst womöglich gar nicht mehr reagieren, sondern auswandern oder sich gar nicht mehr engagieren". Die Experten verweisen auf ein erfolgreiches Bürgerbeteiligungsmodell, das aber in den Schubladen verschwand.

Heuchelei von US-Vertretern

Als eine Heuchelei besonderer Art der internationalen Akteure wird in Sarajevo auch der Umstand erachtet, dass der HDZ-Politiker Marinko Čavara zum Vize-Präsidenten des Parlaments gewählt wurde. Die USA hatten erst vergangenen Juni Sanktionen gegen Čavara verhängt. Damals hieß es noch von US-Vertretern, Čavara verhindere wichtige Reformen, demokratische Prozesse und Institutionen. Čavara steht nach wie vor auf der Schwarzen Liste der USA. Nun haben die US-Vertreter in Bosnien-Herzegowina aber offenbar nichts mehr gegen die Wahl von Čavara. (Adelheid Wölfl, 1.1.2023)