Rentier und Junges auf Spitzbergen. Die dortige Population hat sich in den letzten hundert Jahren verzwanzigfacht.

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Dank "Rudolph the red-nosed Reindeer", einer der erfolgreichsten Weihnachtserzählungen der modernen Geschichte, gelten die Rentiere heute als die jene Tiere, die den Schlitten des Weihnachtsmanns durch die Lüfte ziehen. Die Erzählung stammt aus dem Jahr 1939 und wurde durch die Vertonung noch berühmter.

Knapp hundert Jahre später ist es um die Rentiere ganz allgemein eher schlecht bestellt: Der Klimawandel, der in der Arktis für eine besonders starke relative Erwärmung sorgt, hat für einen Rückgang der verschiedenen Populationen im hohen Norden gesorgt. Schuld daran ist nicht zuletzt der immer wieder auftretende Regen, der das Futter der Tiere – etwa niedrig wachsende Moose – unter einer Eisdecke begräbt und unzugänglich macht.

Vermehrung auf Spitzbergen

Berichte über massenhaftes Verhungern von Rentieren in Russland und rückläufige Karibu-Populationen in Kanada und Alaska haben Anlass zur Sorge gegeben, dass auch die Rentiere in Spitzbergen durch die Klimakrise dahingerafft werden könnten. Doch genau das Gegenteil war der Fall: Die Spitzbergen-Rentiere, die kleiner und plumper als ihre lappländischen Vettern sind, aber dennoch ein beeindruckendes Geweih haben, haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich vermehrt.

Wie ein Team um die Biologin Mathilde Le Moullec im Jahr 2019 ermittelte, betrug die Population der Tiere, die eine autochthone Unterart bilden, in ganz Svalbard rund 22.000 Exemplare. Das waren doppelt so viele, wie bis dahin vermutet wurde: 2009 waren nur zwischen 10.000 und 11.000 Rentiere gezählt worden. In der Studie aus dem Jahr 2019 vermuteten die Fachleute zwei Ursachen für den positiven Trend: Zum einen sollte sich das Jagdverbot von 1925, als es nur mehr rund 1.000 Tiere gab, weiter positiv auswirken. Zum anderen könnte man sich 2009 schlicht verzählt haben.

"Eis am Stiel" als Alternative

Nun allerdings legt ein Forscherteam unter der Leitung von Jeffrey Welker (Universität Oulu in Finnland) eine neue Erklärung vor. Mit seinen Kolleginnen und Kollegen entnahm er im Rahmen einer langfristigen Überwachungsstudie den Rentieren auf Spitzbergen, das nur 800 Kilometer vom Nordpol entfernt liegt, jährlich im Spätwinter Blutproben. Durch den Vergleich des Anteils von Kohlenstoff- und Stickstoffisotopen in diesen Proben konnten sie Rückschlüsse auf die Pflanzen ziehen, die die Rentiere in den vorangegangenen Wochen gefressen hatten.

Die vor kurzem in der Fachzeitschrift "Global Change Biology" veröffentlichten Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es zwischen 1995 und 2012 zu einer Verlagerung der Ernährung weg von niedrig wachsenden Moosen und hin zu grasähnlichen Pflanzen kam. Der Stängel ermöglicht es den Tieren, das Futter selbst dann zu fressen, wenn die Eisdecke etwa einen Zentimeter dick ist, erklärt Welker.

Dieses "Eis am Stiel" (oder, genauer, "Gras im Eis") dürfte nahrhaft genug sein, dass sich die Tiere selbst in stressigen Winterperioden ernähren können. Höhere Bodentemperaturen und größere Mengen an Rentierexkrementen tragen wiederum zum Wachstum dieser Gräser bei.

Keine Verallgemeinerungen

Welker warnt allerdings davor, die Entwicklung in Svalbard auf andere Regionen der Arktis zu übertragen, zumal die Populationen in Alaska augenscheinlich zurückgehen. Das zeige, wie komplex die Arktis ist: "Die Ereignisse, die an einem Ort stattfinden, sind nicht identisch mit denen, die an anderen Orten stattfinden." Aus Skandinavien wird beispielsweise berichtet, dass Regen das Wachstum von giftigen Schimmelpilzen unter der Schneedecke aufgrund der wärmeren Bedingungen fördert, was die Rentiere dazu veranlasst hat, diese Gebiete zu meiden.

Im Moment aber geht es den Rentieren auf Spitzbergen prächtig. Und falls sich der Weihnachtsmann an anderen Orten künftig schwertun sollte, Zugtiere für seinen Schlitten zu rekrutieren – in Svalbard gibt es eine eiserne Reserve. (Klaus Taschwer, 29.12.2022)