Die Vorstadt ist ein kurzer, etwas versteckter Straßenzug. Er verläuft entlang des Tauscherbachs, der bald nach Schattendorf Spitalsbach genannt wird und nach der Grenze, auf Ungarisch, Ikva. Die fließt dann mitten durch Sopron, um östlich von Pamhagen in den Einserkanal zu münden, der zuletzt einige Berühmtheit erlangt hat als einziger Abfluss des gerade austrocknenden Neusiedler Sees.

Rote Hochburg

Dort, wo die Vorstadt auf die Fabriksgasse trifft, steht das Gemeindeamt des nicht ganz 2.500-Einwohner-Dorfes. Hier residiert Thomas Hoffmann, der Bürgermeister. Der 38-jährige erreichte im Oktober, bei seinem ersten Antreten, ein sehr überzeugendes Ergebnis: 82 Prozent. Schattendorf ist seit eh und je, was man eine rote Hochburg nennt.

In Schattendorf ist es dieser Tage sehr ruhig. Es sind kaum Menschen auf der Straße zwischen der Disco, dem Gemeindeamt und der Kirche.
Foto: Guido Gluschitsch

Hoffmann hat auch ein tadellos rotes Wahlprogramm vorgelegt. Schwerpunkt war der Ausbau der Pflege. Mit dem kräftigen Rückenwind des Landes wird hier ein Stützpunkt für die mobile Hauspflege in der Region eingerichtet. Darüber redet Thomas Hoffmann gern. Als Mitarbeiter im Büro des Soziallandesrates Leonhard Schneemann tut er das auch entsprechend kompetent.

Aber deshalb schaut niemand vorbei bei ihm in der Fabriksgasse.

Gasthaus und Diskothek

Die Fabriksgasse heißt so wegen einer längst aufgelassenen Pfeifenfabrik. An deren Stelle entstand ein Gasthaus. Das beherbergt auch eine Diskothek. Die hat seit einiger Zeit wieder manchmal geöffnet. In der Nacht von 17. auf 18. Dezember wurde hier, im Rauchereck vor dem Lokal, ein 42-jähriger Familienvater erschlagen. Ein zweiter Mann wurde schwer verletzt.

Tatverdächtig sind ein 18-jähriger Syrer, der 2015 nach Österreich gekommen ist und nun in Neunkirchen lebt. Und ein 16-Jähriger aus einem Nachbardorf. Das ist der Grund, warum nun alle mit dem Bürgermeister sprechen wollen.

Bürgermeister Thomas Hoffmann (SPÖ) wollte eigentlich zu den Medien nichts mehr sagen, doch dann bat ihn die Bevölkerung darum, nachdem die Kamerateams durch den Ort zogen und Leute befragten.
Foto: Roland Schuller

Zeitungsschreiber und Fernsehreporter klopfen an, Fotografen und Kamerateams. Sie wollen Details zum Tatablauf und Stimmungsbilder aus der Gemeinde. "Die Volksseele kocht", sagte er zu einem. "Aus 2015 hat man nichts gelernt", sagte er auch. Und: "Wir sind eine Gemeinde direkt an der Grenze und sind daher beim Thema Migration mittendrin statt nur dabei." Und: "Es mag ein Zufall sein, aber es stellt sich die Gesamtfrage, ob jeder die gleiche Hemmschwelle hat oder ob es nicht hinsichtlich der Herkunft Unterschiede gibt."

Der erste Moment ist immer der schlechteste fürs Schlüsseziehen. Noch dazu, da dieser Tod von so unfassbarer Brutalität gekennzeichnet war. Mittlerweile wurde der Schlagring gefunden, von dem immer die Rede gewesen ist.

Medieninteresse

"Eigentlich habe ich ja gar nichts mehr sagen wollen", sagt der Bürgermeister. Bei einem Privatensender hat er das auch getan. "Aber dann ist das Kamerateam durchs Dorf gezogen, schließlich haben sie sogar am Kinderspielplatz gedreht und die Kinder befragt. Die Mütter sind zu mir gekommen und haben gemeint: Bürgermeister, das musst du machen." Also macht er es.

Schattendorf liegt direkt an der Grenze zu Ungarn.
Foto: Guido Gluschitsch

Gewinnen kann er dabei nichts. Die Debatte ist vergiftet. 18-jähriger Syrer schlägt Familienvater tot! Das ist eine zu griffige Schlagzeile, als dass viele sie sich durch allzu gründliche Recherche zusammenhauen lassen wollen. Wie im Reflex wollen andere wieder diesen Umstand möglichst abwiegeln oder ins allgemein Toxische des Mannes drehen, als spiele die je konkrete Sozialisierung überhaupt keine Rolle. Jeder will mit dieser Geschichte eine weitere, die je eigentliche erzählen.

Unterschiedliche Versionen

"Ich halte es mit dem Sinowatz, der sinngemäß gesagt hat, alles ist komplizierter als es scheint." Diese auf den ersten Blick so klare Tat sei ein gutes Beispiel. Eine Mutter habe ihm von ihrem 15-Jährigen erzählt, der in der Disco-Nacht mit dabei war. Ganz aufgelöst sei er heimgekommen. Dreimal habe er davon erzählt. Jedes Mal in einer anderen Version. Erfahrene Ermittler kennen das Phänomen. Das Gedächtnis ist ein Luder, gerade bei so traumatischen Erlebnissen. Alkohol spielt auch eine Rolle. Das ist nicht nur der Grund, warum die Polizei so zurückhaltend ist mit ihren Informationen. Sondern auch einer dafür, das Unschuldsvermutungsgebot penibel einzuhalten.

Von der Polizeistation bis zur Disco sind es nur wenige Hundert Meter.
Foto: Guido Gluschitsch

"Es scheint nicht einmal klar, wer von den beiden Verdächtigen wie zugeschlagen hat. Geschweige denn warum." Der zweite Verdächtige stammt aus einem Nachbardorf. Im Sommer war er – so wurde es in manchen Zeitungen erzählt – in eine Messerstecherei in Mattersburg verwickelt. Das stimmt. Allerdings als Opfer.

Registrierungsstelle

Kompliziert ist auch die Asyl- und Migrationsgeschichte, die sich mit dem Schattendorfer Totschlag so heillos verquickt. Wo die Fabriksgasse und die zur Grenze führende Ödenburger Straße aufeinandertreffen, steht das alte Zollhaus. Seit 2015 ist hier eine Erst-Registrierungsstelle untergebracht. An manchen Tagen dieses historischen Markierungsjahres streiften Hunderte ziellos und überfordert durchs Dorf, lagerten vor der nahen Kirche und dem daneben liegenden Friedhof, gleich neben dem Kindergarten und dem Freibad.

"Das ist jetzt nicht mehr so. Die Asylwerber müssen bis zur Registrierung im Gebäude bleiben." Aber ganz so ohne sei das auch nicht. "Der Schulweg führt da vorbei. An den warmen Tagen im Herbst ist es vorgekommen, dass junge Burschen mit einem Geldschein aus den offenen Fenstern gewachelt haben und den Kindern zugerufen haben: ficki, ficki." Auch mit so was wird der Bürgermeister konfrontiert. Der verweist auf den schwarzen Innenminister. Der dann manchmal auf die SPÖ-Vorsitzende, die noch im späten Sommer gemeint habe, es gebe ja gar kein Asylproblem.

Und so dreht sich das alles im Kreis. Gerade in der SPÖ wirken viele, als sei ihnen schon schwindlig geworden davon. Dass die SPÖ keine Haltung habe zur Asyl- und Migrationsfrage stimme aber nicht, sagt Thomas Hoffmann. "Doch dummerweise trägt das entsprechende Positionspapier den Namen Kaiser-Doskozil-Papier." Bei dem Namen stellt es manchen halt die Haare auf.

Zunehmende Brutalität

Was dem Bürgermeister auffällt – nicht nur, aber schon auch im Zusammenhang mit der Migration –, ist eine offenbar zunehmende Brutalität. "Ich war nie ein Raufer. Aber dass jemand auf einen, der am Boden liegt, hintritt, hat's sicher nicht gegeben", glaubt er. Und dass ein 18-Jähriger oder gar 16-Jähriger auf einen 42-Jährigen derart einschlägt, auch nicht. An einen auch nur ähnlichen Vorfall wie den vorweihnachtlichen Totschlag könne er sich jedenfalls nicht erinnern. Die skeptischen Nachfragen des STANDARD kontert er umgehend mit einem Anruf beim Lokalhistoriker. "In den 1950ern gab's was, aber keinen Toten." 1925 war einen Leberstich. Und dann natürlich die so fatalen Schüsse von Schattendorf zwei Jahre später.

Nach der Tat wurde das Gemeindeamt beklebt: "Ohne der SPÖ könnte Jürgen noch leben."
Foto: Guido Gluschitsch

Die Schüsse von Schattendorf waren der Anfang vom Ende der Ersten Republik. Es würde zu weit führen, sie hier im Detail nacherzählen zu wollen. Rechte Frontkämpfer schossen aus einem Wirtshaus, das linke Schutzbündler stürmen wollten. Ein Kriegsversehrter und ein Kind starben. Die Schützen wurden freigesprochen. Auch, weil es damals das Delikt der Notwehrüberschreitung noch nicht gab. Der Justizpalast brannte daraufhin. Die Polizei schritt und ritt ein. 84 Demonstranten starben. Diese Julirevolte 1927 war das Resultat und der Ausgangspunkt einer unheilvollen Polarisierung. Am selben Feuer kochte ab da ein jeder sein eigenes Süppchen.

Die Identitären

Einen Tag vor dem Heiligen Abend waren dann schon die so kasperloid wirkenden Identitären in Schattendorf. "Die Österreicher" nennen sich die Burschen. Deutsch können sie nur mangelhaft. Sie hängten Plakate vors und ans Gemeindeamt. "Ohne der SPÖ könnte Jürgen noch leben", stand drauf.

Gleich neben dem Gemeindeamt, getrennt nur durch die Vorstadt, steht das Polizeigebäude. "Aber der Posten ist nicht immer besetzt." Personal fehle oder Geld oder Wille oder alles zusammen. "In der Totschlagnacht war er jedenfalls nicht besetzt. Die Einsatzkräfte mussten aus Mattersburg anfahren, das dauerte wenigstens zwanzig Minuten. Vom Posten aus wären es ein paar Schritte."

Jürgen T., der 42-jährige Vater zweier Mädchen, wird am Freitag bestattet. Die Grabrede hält sein Cousin, Thomas Plank, der rote Vizebürgermeister. (Wolfgang Weisgram, 28.12.2022)