Eine Klasse für sich: Magnus Carlsen.

Foto: EPA/YOSHUA ARIAS

Diesmal wollte er wirklich gerne gewinnen. Magnus Carlsen, der die Schachwelt im vergangenen Jahrzehnt dominierte, wird nicht mehr lange Weltmeister im klassischen Schach sein. Da der 32-jährige Norweger auf eine Titelverteidigung verzichtet, wird im Weltmeisterschaftsmatch zwischen dem Russen Jan Nepomnjaschtschi und dem Chinesen Ding Liren im April nächsten Jahres sein Nachfolger bestimmt – eine Ära geht damit zu Ende.

Besonders im Spiel mit kürzeren Bedenkzeiten ist der Champion, der die Weltrangliste immer noch mit Abstand anführt, nach wie vor hoch motiviert. Umso ärgerlicher war aus Carlsens Perspektive die Schnell- und Blitzschach-WM im vergangenen Jahr in Warschau verlaufen, wo der erfolgsverwöhnte Norweger keinen der beiden Bewerbe gewinnen konnte.

Dieses Jahr startete Carlsen in Almaty (Kasachstan) wie die Feuerwehr in den Schnellschachbewerb, der mit 15 Minuten Bedenkzeit pro Partie plus zehn Sekunden Zugbonus ausgetragen wird. Erst in der fünften und letzten Runde des ersten Spieltages gab er gegen den indischen Nachwuchsstar Erigaisi Arjun sein erstes Remis ab.

Riskanter Plan

Besonders dürfte der Weltmeister seinen Sieg in Runde vier genossen haben: Da revanchierte er sich nämlich beim vorjährigen Überraschungssieger und regierenden Schnellschachweltmeister, dem erst 18-jährigen Nodirbek Abdusattorow, der Carlsen damals sensationell mit den schwarzen Steinen besiegt hatte. In einer Igel-Stellung packte die Nummer eins der Weltrangliste einen riskanten Plan mit Vorstoß des g-Bauern aus, den der legendäre Bobby Fischer einst salonfähig gemacht hatte, und trug per Königsangriff den Sieg über seinen usbekischen Gegner davon.

Auch Tag zwei verlief für Carlsen ohne Niederlage nicht unzufriedenstellend, wiewohl er sich vom Feld noch nicht entscheidend absetzen konnte. Dann aber die Runde elf am dritten Spieltag: Gegen den Russen Wladislaw Artemiew stellte Carlsen in völlig harmloser Position einen Springer ein, verlor und wurde vom Verfolgerfeld geschluckt.

Das Championat war damit wieder völlig offen. Als gefährlichster Konkurrent Carlsens erwies sich überraschend der erst 18-jährige Deutsche Vincent Keymer. Zwar unterlag Keymer Carlsen im direkten Duell, abgesehen davon spielte der Mainzer jedoch ein fantastisches Turnier, bei dem er unter anderem den Weltklasseleuten Fabiano Caruana und Nepomnjaschtschi das Nachsehen gab.

Niemann nirgends

In der 13. und letzten Runde schrammte Keymer hauchdünn an einem Schwarzsieg gegen Blitzschachweltmeister Maxime Vachier-Lagrave vorbei, was ihn für einen Stichkampf um den Titel gegen Carlsen qualifiziert hätte. Carlsen gewann seine Partie und krönte sich zum insgesamt vierten Mal zum Schnellschach-Weltmeister. Am Donnerstag beginnt in Almaty der über zwei Tage ausgetragene Blitzschachbewerb.

Fast zur Randnotiz verkam sein Widersacher Hans Niemann. Der von Carlsen des Betrugs verdächtige US-Amerikaner belegte unter 178 Konkurrenten nur Rang 100. Der österreichische Großmeister Valentin Dragnev wurde 108., der 20-jährige Staatsmeister Jakob Postlmayer beendete das Turnier auf Rang 167.

Im Frauenbewerb setzte mit der Chinesin Tan Zhongyi die Elo-Favoritin im Tiebreak gegen Lokalmatadorin Dinara Saduakassowa durch. In beiden Bewerben gab es politisch konnotierte Verstimmungen: So verweigerten die iranischen Teilnehmer auf Geheiß ihres Verbandes erneut das Antreten gegen Israelis, was vom Weltschachbund weiterhin nicht sanktioniert wird. Die beiden iranischen Spielerinnen Sara Khadem und Atousa Pourkashian wiederum traten – offensichtlich aus Solidarität mit den Protestierenden ihres Landes – ohne Kopftuch zu ihren Partien an und müssen nach der Rückkehr in ihr Heimatland wohl mit staatlicher Repression rechnen. (Anatol Vitouch, 28.12.2022)