Die AKP schwört ihre Anhänger auf "Einheit, Wille, Sieg" ein – ob es so kommt, ist offen.

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Es ist schon einige Jahre her, dass Recep Tayyip Erdoğan, damals noch Premier, das Ziel für das Jahr 2023 ausgab: Die Türkei wird, so hatte er den Türkinnen und Türkei versprochen, zum hundertsten Geburtstag der Republik im Oktober zu den zehn größten Wirtschaftsnationen des Globus gehören.

Als Erdoğan noch in den Nullerjahren diese Parole ausgab, sah es kurzfristig einmal so aus, als sei dieses Ziel tatsächlich in Reichweite. Damals stritt sich die Türkei mit China darum, wer die höchsten jährlichen Wachstumsraten vorweisen kann und wer seine Wachstumsstrategie am besten verstetigen könne. Von diesem überbordenden Optimismus ist zehn Jahre später nichts mehr übriggeblieben. Erdoğan, dessen Markenkern immer die starken Sprüche waren, ist bescheidener geworden.

Spätestens im Juni 2023 müssen aber Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden. Aus Sicht der Opposition entscheiden diese darüber, ob die säkulare, demokratische Republik ihren hundertsten Jahrestag überlebt oder endgültig in einen autoritären islamischen Staat abgleitet. Erdoğan dagegen will unbedingt seine Mission beenden. Es geht darum, die Transformation des Landes zu vollenden. Er weiß, dass seine Wiederwahl 2023 so schwierig wird wie nie zuvor. Denn zu Beginn des Schicksalsjahres 2023 geht es den meisten Menschen so schlecht wie lange nicht. Bei rund 150 Prozent Inflation für Lebensmittel und andere wichtige Güter des täglichen Bedarfs sind sie mit einem enormen Reallohnverlust konfrontiert.

Schlechte Umfragen

Zwar liegt die Türkei mit einem jährlichen Wachstum von rund fünf Prozent immer noch weltweit im oberen Drittel. Die allermeisten Menschen im Land können sich dafür aber im wahrsten Sinne des Wortes nichts mehr kaufen. Auf Anweisung Erdoğans hat die türkische Zentralbank gegen den weltweiten Trend die Zinsen immer weiter gesenkt. Das ist einer der Gründe, warum die Inflation in der Türkei mittlerweile Weltspitze ist und der Wert der Lira sich 2022 gegenüber Dollar und Euro noch einmal halbiert hat.

Erdoğan wird diese Situation bis Juni kaum mehr groß verändern können – er könnte abgestraft werden. Noch nie in den 20 Jahren, die er die Türkei als Präsident und Ministerpräsident regiert, waren seine Umfragewerte so schlecht. Nur seine Partei, die AKP, steht noch schlechter da als er selbst. Zusammen mit ihrem Koalitionspartner, der rechtsnationalen MHP, kommt sie nicht einmal mehr auf 40 Prozent.

Eigentlich könnte die Opposition sich angesichts der Zahlen und Stimmungen im Land jetzt schon auf einen Machtwechsel vorbereiten. Eigentlich, doch 20 Jahre Erdoğan-Regierung haben die politische Konkurrenz und die Bevölkerung insgesamt gelehrt, dass bei diesem Politiker noch immer ein Ass im Ärmel stecken könnte. In all den Jahren hat Erdoğan gezeigt, dass er nicht nur ein begnadeter Wahlkämpfer ist, sondern auch keine legalen oder weniger legalen Tricks scheut.

Deshalb herrscht zu Beginn des Schicksalsjahres statt einer freudigen Wechselstimmung eher eine gespannte Erwartung. Dass Erdoğan eine faire Wahl abhalten lässt und anschließend freiwillig abtritt, glaubt fast niemand. In welche Richtung es gehen wird, zeigt sich vielmehr daran, wie skrupellos er im Vorfeld der Wahl die Justiz instrumentalisiert, Oppositionelle schon länger als angebliche "Terroristen" oder "Terrorunterstützer" diffamiert.

Klagen gegen Gegner

Rechtzeitig vor der Wahl hat Erdoğan jetzt den ganz großen Schlag gegen die HDP vorbereitet und ein Verbotsverfahren einleiten lassen. Ob es tatsächlich vor der Wahl noch zu einem Verbot kommt, ist ungewiss. Im vertraulichen Gespräch sagen HDP-Politiker, das sei eine Frage der politischen Opportunität – ob ein Verbot Erdoğan eher nutzen oder schaden würde.

Mitte Dezember wurde dann der CHP-Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, der Mann, der in fast allen Umfragen zur Präsidentschaftswahl vor Erdoğan liegt, in einem offensichtlich politisch gelenkten Verfahren zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft wegen angeblicher Beleidigung der zentralen Wahlkommission verurteilt. Hat das Urteil im Berufungsverfahren Bestand, geht damit ein Ämterverbot einher. Schon vor ihm wurde gegen die Istanbuler Vorsitzende der CHP, Canan Kaftancıoğlu, wegen Beleidigung des Präsidenten ebenfalls ein Politikverbot verhängt. Wenige Tage vor Jahresende wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft ein weiteres Verfahren gegen İmamoğlu vorbereitet – wegen angeblicher "Unterstützung von Terrororganisationen".

Erdoğan entledigt sich so seiner potenziell wichtigsten Konkurrenten und versucht, die Allianz von sechs Oppositionsparteien, die einen gemeinsamen Kandidaten gegen ihn aufstellen wollen, zu spalten.

Was, wenn das aber alles nicht reicht? Schon lange wird spekuliert, der Präsident könnte die Wahl auf unbestimmte Zeit verschieben, indem er einen Ausnahmezustand verhängt. Mittel zum Zweck wäre ein großangelegter militärischer Einmarsch in Nordsyrien, mit dem der Präsident seit längerem droht.

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine redet Erdoğan unablässig davon, dass dieser Konflikt nur durch Verhandlungen gelöst werden kann. Er bietet die Türkei als neutralen Ausrichter für mögliche Friedens- oder Waffenstillstandsverhandlungen an, bei denen er als Moderator auftreten könnte. Dadurch ist er, der vor Beginn des Krieges international eher isoliert war, plötzlich wieder ein wichtiger Gesprächspartner. Das nutzt er aus – auch mit Blick auf die Kurden in Syrien.

Verschiedene Albträume

Die meisten Menschen in der Türkei nehmen seine Vermittlungsbemühungen wohlwollend zur Kenntnis, für einen Wahlsieg würde das aber wohl nicht reichen. Etwas anderes wäre ein Krieg in Syrien. Erdoğans Credo, es dürfe "kein PKK-Staat an unserer Grenze entstehen", wird in der Türkei, anders als im Ausland, von vielen Menschen geteilt. Der Bürgerkrieg im kurdischen bewohnten Südosten des Landes seit 1984 hat tiefe Wunden hinterlassen. Mit dem Thema kann man viele Emotionen mobilisieren.

Seit dem Bombenanschlag in Istanbul Mitte November plagt viele Türkinnen und Türken aber noch ein anderer Albtraum. Nachdem die AKP im Frühjahr 2015 bei einer Parlamentswahl die absolute Mehrheit verloren hatte, begann in der Türkei eine Serie von Anschlägen, die nie wirklich aufgeklärt wurden und erst aufhörten, als die AKP bei vorgezogenen Neuwahlen im November wieder eine absolute Mehrheit gewann. Weil es ihr gelang, die Stabilität wiederherzustellen, wie die Partei betonte. Nicht laut, aber im Stillen, stellen sich einige Leute seitdem die bange Frage, ob sich die Ereignisse von 2015 wiederholen können. (Wolf Wittenfeld, 30.12.2022)