Odessa / Los Angeles – Der Literaturszene der amerikanischen Westküste gilt Boris Dralyuk seit Jahren als eines ihrer Aushängeschilder – und das nicht erst, seit er (noch bis Jahresende) der "Los Angeles Review of Books" als Chefredakteur vorsteht. Er gilt als führender Übersetzer und Experte für ukrainische und russische Literatur.

Boris Dralyuk: literarische Expertise und pointierte politische Einstellung.

STANDARD: Wir gehen in den elften Monat der russischen Invasion in der gesamten Ukraine. Ein Ende des Krieges scheint nicht in Sicht. Wie stellt sich die Situation für Sie dar?

Dralyuk: Ich bin kein Militärstratege, aber meiner Meinung nach sind die Chancen der russischen Armee, die ukrainische auf dem Schlachtfeld zu besiegen, gleich null. Die ukrainische Armee ist dank ihrer Verbündeten besser ausgebildet, erfahrener und weitaus besser versorgt. Außerdem müssen wir uns daran erinnern, dass der Krieg, in dem viele Ukrainer, aber bis vor kurzem relativ wenige Russen gekämpft haben, schon seit 2014 dauert.

Die russische Armee ist – wie jede Institution in Russland – aufgrund von Korruption zutiefst verrottet. Die einzige Ressource, die Russland hat, sind seine Menschen. Die Ukrainer mähen deshalb jetzt mit großem Aufwand und unter hohen psychologischen Kosten ungeschulte Russen nieder, einschließlich ehemaliger Strafgefangener, die im Wesentlichen Sklaven des Putin-Regimes sind. Die Ukrainer verteidigen ihre Heimat, ihre Kinder und ihre Zukunft, aber welche Motivation haben diese Russen zu kämpfen? Das Versprechen einer reduzierten Strafe? Angst vor der Hinrichtung mit einem Vorschlaghammer? Eine Waschmaschine? Aber diese Art der Kriegsführung entspricht halt der russischen Tradition. Nichts in Russland zählt weniger als ein Menschenleben.

STANDARD: Sie sind in der Ukraine geboren und aufgewachsen, als diese noch Teil der Sowjetunion war, und sind Anfang der 1990er mit Ihren Eltern in die USA ausgewandert. Wie stellt sich für Sie die Wahrnehmung des Krieges in den USA dar?

Dralyuk: In der US-Bevölkerung gibt es meiner Beobachtung nach eine nahezu allumfassende Unterstützung für die Ukraine. Natürlich gibt es ganz rechts und weit links isolationistische Stimmen und nützliche Idioten mit großen Reichweiten in den sozialen Medien; aber ich sehe nicht, dass die Einfluss auf die Politik oder auf das Denken durchschnittlicher Amerikaner haben.

STANDARD: Ein Gutteil Ihrer Arbeit besteht in der Übersetzung von Werken russischer Autoren und nichtrussischer Schriftsteller, die auf Russisch schreiben oder geschrieben haben. Aktuellen Umfragen zufolge lehnen immer mehr Ukrainer den Gebrauch der russischen Sprache ab. Selbst in Ihrer Heimatstadt Odessa, wo Russisch seit Jahrhunderten die Lingua franca ist, ist dieser Wandel mittlerweile spürbar. Wie denken Sie darüber?

Dralyuk: Das ist der Preis, den die Sprache und die russische Hochkultur für die Gewalt des Staates und des russischen Volkes zahlen müssen. Die russische Hochkultur dient seit langem dazu, die Unmenschlichkeit zu verschleiern, die die russische Gesellschaft und Russlands Handeln auf der Welt prägen. Die angeblich "wahre russische Tradition", die viel zu viele Menschen mit prinzipiell guten Absichten – wie Papst Franziskus – heute anrufen, ist laut ihnen die von Puschkin, Tolstoi oder Tschaikowski. Damit verschließen diese Leute aber die Augen vor der extremen Gewalt, die von direkt aufeinanderfolgenden russischen und sowjetischen Tyrannen ausgeübt wurde und wird. Ebenso wie sie die Mentalität der Mehrheit der russischen Bevölkerung und die oft grauenhaften Lebensbedingungen im Land ignorieren. Gleichzeitig geben sie damit – bewusst oder unbewusst – zu, dass die Werke Puschkins, Tolstois oder Tschaikowskis auch Ergebnisse des Leidens der Mehrheit des russischen Volkes sind.

Diese Künstler wurden von der sie umgebenden Kultur geprägt, egal ob sie sich den Sitten ihrer Gesellschaft oder den Handlungen ihres Staates widersetzten oder sie unterstützten. Puschkin und Tolstoi hatten auch deshalb die Zeit, ihre Meisterwerke zu schreiben, weil sie Leibeigene hatten. Entsprechend ungeeignet ist die russische Hochkultur dafür, menschliches Leid zu rechtfertigen oder gar zu verherrlichen.

STANDARD: Im Mai veröffentlichte der Schriftsteller Myroslaw Lajuk (Myroslav Laiuk) einen vieldiskutierten Essay in der "Los Angeles Review of Books", in dem er die westliche Öffentlichkeit, die die Ukrainer oft als "zu emotional" und "zu hasserfüllt" gegenüber Russen empfindet, zu mehr Verständnis für die Angegriffenen aufruft. Ein Hauptargument Lajuks ist, "dass die russische Kultur zu einer Waffe geworden ist, die jetzt gegen die Zivilisation selbst arbeitet". Wie geht jemand wie Sie, der bestimmte russische Autoren und Aspekte der russischen Kultur liebt, aber die Aggression des russischen Staates scharf verurteilt, damit um?

Dralyuk: Ich habe kürzlich einen Essay über meine Beziehung zum Werk jener russischen Autoren geschrieben, die ich selbst übersetzt habe. Dabei wurde mir klar, dass ich mich zu den Werken russischer Emigrantendichter schon immer mehr hingezogen fühlte als zu denen, die in Russland lebten oder leben. Manche dieser Dichter dachten oder handelten teils auch auf eine Art und Weise, die ich für verwerflich halte, aber ihre Texte sind fast immer furchtlos selbstreflexiv und ehrlich über die widersprüchlichen Gefühle, die das Leben im Exil mit sich bringt. Für mich bildet ihr Werk ebenso einen Teil der universalen Tradition der Exilliteratur wie einen Teil der russischen.

"New York Review of Books": ein "von fröhlicher Trauer durchdrungenes Buch".
Foto: Paul Dry Books

Ich habe nur sehr wenige lebende russische Autoren übersetzt. Einer von ihnen, Maxim Ossipow (Osipov), lebt seit dem Beginn der Invasion in die Ukraine jetzt auch im Exil. Seine brillanten, nuancierten Geschichten haben mich gerade deshalb angezogen, weil sie sowohl die innere wie die äußere Realität des Lebens in einer Nation am Rand eines moralischen Abgrunds einfangen. Ich weiß nicht, ob ich jemals einen lebenden russischen Autor oder eine Autorin übersetzen möchte, der oder die während dieses Krieges in Russland geblieben ist. Trotzdem hoffe ich, dass sie überleben. Damit sie sich selbst und ihre Umgebung genau und schonungslos betrachten und versuchen, für uns darzustellen, wie es ist, inmitten erbärmlicher Verdorbenheit zu leben.

STANDARD: Ich frage Sie das auch deshalb, weil manche ukrainischen Autoren heute dafür angegriffen werden, weil sie früher auf Russisch geschrieben oder ihre Bücher in Russland veröffentlicht haben. Die Literaturkritikerin und Verlegerin Yaryna Vynnytska beschuldigte etwa jüngst Andrij Kurkow (Andrey Kurkov) "prorussischer Ansichten" und nannte ihn einen "langjährigen Kollaborateur". Ein weiteres prominentes Beispiel ist Jurij Andruchowytsch (Yuri Andruchovych), den zehntausende Ukrainer in den sozialen Medien scharf dafür kritisierten, dass er im Rahmen eines Literaturfestivals in Norwegen mit dem russischen Autor Michail Schischkin (Mikhail Shishkin) diskutiert hatte. Von den Forderungen, jene Statuen russischer Kulturschaffender abzureißen und die nach ihnen benannten Straßen umzubenennen, die heute noch im freien Teil der Ukraine herumstehen, ganz zu schweigen. Was halten Sie von diesen Kulturkämpfen?

Dralyuk: Ich finde sie nachvollziehbar. Ich persönlich denke, dass die russischsprachige ukrainische Tradition ein integraler Bestandteil der ukrainischen Kulturtradition ist. Genauso wie die jiddischsprachige ukrainische Tradition, obwohl deren Geschichte und die Machtdynamik dahinter natürlich eine ganz andere ist. Wir können gern darüber diskutieren, wie die Ukraine die russischsprachige Tradition in ihre Kulturgeschichte integrieren kann, nachdem dieser Krieg gewonnen ist. Ob sie eine Zukunft hat, das ist freilich eine andere Frage.

Was Andruchowytsch oder Kurkow angeht: Es gibt absolut keinen Grund dafür, die Loyalität zweier Schriftsteller zu hinterfragen, die so hart daran mitgearbeitet haben, die Geschichte der Ukraine in die Welt hinauszutragen. Ihre wunderbaren Romane fangen den Geist der Nation und die Vielfalt der auf ihrem Boden gelebten Leben so umfassend wie ergreifend ein. Deshalb haben sich diese Autoren das Recht verdient, die Interessen der ukrainischen Kultur so zu vertreten, wie sie es für richtig halten.

STANDARD: In der Ukraine ist der Streit um den Gebrauch der russischen Sprache Teil einer breiteren Debatte, die sich oft um die Frage der Kollektivschuld dreht. Social-Media-Influencer wie der Polit-Aktivist Maksym Eristavi und sogar hochrangige Regierungsberater wie Mykhailo Podolyak finden heute hunderttausende Follower mit ihrem Narrativ, dass "alle Russen schuldig sind" – egal wo sie leben und wie ihre Einstellung zum Krieg aussehen mag. Wie stehen Sie zum Konzept der Kollektivschuld?

Dralyuk: Ich kann nur sagen, dass es diesen Krieg wahrscheinlich nicht geben würde, wenn nicht Jahrhunderte der Diskriminierung der Ukrainer den Boden dafür bereitet hätten. Diese Diskriminierung existierte nicht nur in Form von "offizieller" imperialer Unterdrückung, sondern zeigte sich auch durch unzählige menschenverachtende Witze und ukrainophobische Fantasien. Was im Zusammenhang mit der Kollektivschuldfrage erwähnenswert ist: Die Russen haben die Verbrechen des Sowjetimperiums nie wirklich aufgearbeitet, geschweige denn gesühnt. Eine noch drängendere Frage als die der Kollektivschuld lautet deshalb meines Erachtens: Was jetzt? Werden Russen jeder politischen Couleur weiter auf die Ukrainer herabschauen und, nennen wir die Dinge beim Namen, den Völkermord an ihnen rechtfertigen, indem sie weiter ihre Geschichte ignorieren, so wie sie es bisher gemacht haben?

STANDARD: Heute leben rund 260 Millionen Menschen auf der Welt, die Russisch sprechen. Welche Auswirkungen wird Russlands Krieg gegen die Ukraine auf den zukünftigen Gebrauch und auf die Wahrnehmung der russischen Sprache weltweit haben?

Dralyuk: Im Allgemeinen wird der Krieg der Sprache schaden. In bestimmten Kreisen wird er sie dagegen in Mode bringen – unter den nützlichen Idioten des Kreml etwa, die sich als Krieger fühlen, die gegen den westlichen Imperialismus kämpfen. Am Ende bestimmen die Nutzer des Russischen den Ruf ihrer Sprache in der Welt. Es liegt an ihnen allein, Respekt für sie zurückzugewinnen.

STANDARD: Obwohl Sie die meiste Zeit Ihres Lebens in den USA verbracht haben, beweist Ihre Arbeit, dass Sie sich eine starke intellektuelle und emotionale Bindung zu Ihren ukrainischen Wurzeln bewahrt haben. Gibt es etwas, das Sie seit dem 24. Februar über sich gelernt haben, was Sie vorher nicht wussten?

Dralyuk: Ja. Ich habe gelernt, dass ich mir über meine Identität klar sein und keine Gelegenheit mehr verpassen sollte, sowohl der verblendeten Ukrainophobie wie der blinden Russophilie entgegenzuwirken – die beide viel zu lange allgemein akzeptiert wurden. (Klaus Stimeder, 31.12.2022)