Dirigent Pablo Heras-Casado springt für den zurückgetretenen Chefdirigenten Andrés Orozco-Estrada ein und widmet sich mit den Symphonikern Meister Brahms.

Milagro Elstak

Ich werde nie eine Symphonie komponieren. Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört." Diese Äußerung des rund 40-jährigen Johannes Brahms gegenüber dem Dirigenten Hermann Levi, die der Brahms-Biograf Max Kalbeck aufzeichnete, ist eines der berühmtesten und gewichtigsten musikgeschichtlichen Zitate des 19. Jahrhunderts.

Es beschreibt gleichzeitig die allgemeine Situation, die viele seiner Kollegen so oder so ähnlich verspürten, indem sie die Macht, aber auch den Grad der Vollendung der neun Symphonien Ludwig van Beethovens vor bzw. hinter sich sahen. Und es beschreibt die Qualen, die Brahms verspürte, als er über viele Jahre den Plan einer eigenen Symphonie mit sich herumtrug – wie Kalbeck vermutete, seit 1855; wie die Forschung heute meint, zumindest seit 1862.

Es sollte bis 1876, also 14 Jahre dauern, bis Brahms seine Erste endlich abschloss, wobei darüber spekuliert wurde, dass ihn auch amouröse Verstrickungen von der Arbeit abhielten. Sein Biograf mutmaßte sehr offen, dass "der Inhalt der c-moll-Symphonie vorerst kein anderer sein konnte, als die Darstellung des Verhältnisses zwischen Johannes (Brahms), Robert und Clara (Schumann), und zwar in dem ganzen Umkreise seiner Ideen und Stimmungen". Eine Spur hat Brahms selbst gelegt: Ein Postkartengruß an Clara ("Hoch auf’m Berg, tief im Tal grüß ich dich viel tausend mal!") findet sich als Zitat im Finale.

Fliegende Melodien

Bereits die Tonarten der Ersten und der Zweiten – c-Moll und D-Dur – offenbaren jenen großen Kontrast, der zwischen den beiden Werken besteht. Auch die Entstehungszeit zeigt grundlegende Unterschiede: Dass er nicht mehr jahrelang grübeln musste, sondern bereits im folgenden Jahr 1877 das gegensätzliche Schwesterwerk in nur wenigen Monaten niederschreiben konnte, war für den Komponisten vor allem mit der Landschaft seines Sommeraufenthalts in Pörtschach am Wörthersee verbunden.

Seinem Freund Theodor Billroth schrieb er: "Hier – ja hier ist es allerliebst, See, Wald, drüber blauer Berge Bogen, schimmernd weiß in reinem Schnee", und der Wiener Kritikerpapst erfuhr: "Ich bin Dir von Herzen verbunden, und zum Dank soll’s auch, wenn ich Dir etwa den Winter einer Symphonie vorspielen lasse, so heiter und lieblich klingen, daß Du glaubst, ich habe sie extra für Dich oder gar Deine junge Frau geschrieben! Das ist kein Kunststück, wirst Du sagen, Brahms ist pfiffig, der Wörther See ist ein jungfräulicher Boden, da fliegen die Melodien, dass man (sich) hüten muss, keine zu treten."

Im Wiener Konzerthaus werden die Wiener Symphoniker diese ersten beiden Brahms-Symphonien in zwei Konzerten am 9. und 10. Jänner 2023 spielen.

Nach dem eher sehr überraschenden Rücktritt von Chefdirigent Andrés Orozco-Estrada wird Pablo Heras-Casado die Leitung beider Konzerte bei gleichbleibendem Programm übernehmen. (Daniel Ender, 31.12.2022)