Bei manchen sorgt die Geschlechtsdysphorie, die sie empfinden, für einen hohen Leidensdruck. Hinzu kommen Diskriminierungserfahrungen.

Foto: AFP / Ezequiel Becerra

Kaya* ist nichtbinär. Die Person kann mit ausschließlich zwei Geschlechtern wenig anfangen. Weder als Frau noch als Mann möchte sie angesprochen werden. Sie versteht sich als Mensch oder Person, hat aber kein Problem damit, mit weiblichen oder männlichen Pronomen tituliert zu werden.

Immer mehr Menschen – vor allem Jüngere – können sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, nicht identifizieren. Die Zahl der Nichtbinären und Transpersonen würde der klinischen Psychologin Diana Klinger vom Wiener AKH zufolge in den letzten Jahren "geradezu exponentiell ansteigen", sagt sie dem STANDARD. Sie arbeitet in ihrem Alltag vor allem mit Personen aus der LGBTIQ-Community, die mit psychischen Problemen kämpfen. "Das ist in ganz Europa und dem angloamerikanischen Raum zu beobachten", sagt sie.

Kaya wurde bei der Geburt das Geschlecht "weiblich" zugewiesen – reagierte aber früh sensibel auf die Geschlechterrollen und den damit verbundenen Sexismus. "Ich fand es schon als Zehnjährige unfair, dass Jungs als stärker wahrgenommen wurden und mehr durften", erzählt sie.

Unverständnis

Bewusst setzte die heute 23-jährige Person sich als Teenager mit Geschlecht auseinander, bezeichnete sich aber noch als weiblich. Im Studium kam für Kaya dann "die Einsicht, wie historisch und sozial konstruiert das Verständnis von Geschlecht ist", sagt sie. "Allmählich wurde mir dann klar: Ich kann mich nicht als Frau oder Mann einordnen."

Erhebungen des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research vom Sommer zufolge identifizieren sich in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen in den USA rund drei Prozent als nichtbinär. Als trans identifizieren sich etwas weniger junge Menschen – nämlich ungefähr zwei Prozent der unter 29-Jährigen. In Österreich gibt es keine aktuellen Zahlen.

Anfangs sorgte Kayas Coming-out in ihrem Umfeld für viel Unverständnis. "Vieles ließ sich damit lösen, dass ich über meine Erfahrungen sprach und versuchte, mich zu erklären", sagt Kaya. Damals verlor die Person aber auch viele Freundschaften. Geoutet habe sie sich bisher überhaupt nur unter Vertrauten. Sonst würde Kaya weiblich wahrgenommen – daher erfahre sie keine Diskriminierung aufgrund ihrer nichtbinären Identität. Insgesamt sei die öffentliche Debatte zu dem Thema aber stark geprägt von Unverständnis. Oft käme es zu Vorurteilen, findet Kaya.

Sehr persönliches Thema

Geschlecht sei ein sehr persönliches Thema – mit unterschiedlichsten Auffassungen –, das viel Raum in der Gesellschaft einnehme. "Wer sich etwa als Frau nicht benimmt, wie erwartet wird, spürt sofort die Konsequenzen. Aber nur in solchen Situationen fühlen wir die Macht, die diese Vorstellungen über uns haben", sagt Kaya. Sonst handle es sich um einen "verinnerlichten Katalog an Erwartungen".

Die Dysphorie, in der sich Betroffene befinden, führt bei manchen zu einem hohen Leidensdruck: Sie empfinden ein Unwohlsein in ihrem eigenen Körper, das teils auch dazu führe, dass bestimmte Geschlechtsmerkmale optisch so gut wie möglich versteckt werden. Etwa binden sich Betroffene, die als Mädchen wahrgenommen werden, die Brust ab, oder als männlich wahrgenommene Jugendliche tragen enge Unterwäsche.

Verschiedene Methoden

"Diese Maßnahmen sind für die Jugendlichen wichtig, um mit der empfundenen Dysphorie zurechtzukommen", sagt Klinger. Daher sei das therapeutische Ziel nicht, dass sie diese weglassen, "sondern, dass sie möglichst sichere Methoden verwenden", sagt die Psychologin. "In erster Linie ist wichtig, dass dem Körper nicht geschadet wird, dass man etwa genug Luft kriegt und Sport machen kann." Dafür gebe es spezielle Unterwäsche, Binder und Methoden. "Mit Tapes etwa kann man die Haut ordentlich verletzen, wenn man nicht die richtigen verwendet." Klinger frage die Jugendlichen, was sie tun, um weniger oder mehr feminin bzw. maskulin auszusehen, und versuche dann, aufzuklären.

Sie spricht mitunter auch mit Trans- und nichtbinären Jugendlichen, die stationär an der Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen werden. Dort seien oft Personen, die schwere Depressionen oder Erkrankungen durch Traumatisierungen haben und einen Aufenthalt brauchen. "Selbstverletzungen und Suizidalität kommt bei den transidenten Jugendlichen im Verhältnis öfter vor als bei ihren cisgender (Personen, die sich mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren, Anm.) Peers", sagt die Psychologin.

Weitaus mehr Transmänner

Ein verbreitetes Phänomen ist, dass weitaus mehr Personen, denen bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugeschrieben wurde, sich als männlich identifizieren als umgekehrt. "Ich schätze, zumindest zwei Drittel meiner Klienten sind Transburschen", sagt sie. Auch nichtbinäre Jugendliche seien "in den meisten Fällen geburtsgeschlechtlich weiblich". Warum das so ist, "da rätselt jeder".

"Studien können nicht eindeutig klären, wieso", sagt die Psychologin. "In den letzten Jahren gehen die Erkenntnisse in die Richtung, dass die Pubertät bei geburtsgeschlechtlichen Mädchen früher beginnt und diese dadurch ihre Dysphorie länger erleben und sich früher outen", erläutert sie.

Druck durch Männlichkeitsbilder

"Auch ist der gesellschaftliche Druck bei Männlichkeitsbildern noch größer. Es ist schwieriger für Transmädchen, sich zu outen, weil das mit mehr Diskriminierung verbunden ist", sagt Klinger. Eine Annahme sei, dass sich Transburschen durchschnittlich zehn Jahre früher outen, das Verhältnis sich aber in Zukunft ausgleiche. "Ob das tatsächlich eintreffen wird, kann man derzeit nicht sagen", erläutert die Psychologin.

Es gebe auch weitere Hypothesen, im Großen und Ganzen ließen aber auch diese sich aktuell nicht bestätigen. "Die meisten Jugendlichen erzählen mir, dass sie es entweder immer schon so empfunden haben oder dass sie mit dem Thema in der Pubertät in Kontakt gekommen sind."

Insgesamt wünscht sich Klinger mehr Beachtung für die Thematik, fehle es doch vielfach an Fachpersonal. "Ich beneide diese Jugendlichen nicht, die Probleme haben und Hilfe brauchen", sagt sie. Kaya hofft auf mehr Verständnis für nichtbinäre Geschlechteridentitäten. Es habe schon immer Menschen gegeben, die sich nicht als Mann oder Frau identifizieren können – "und es wird uns auch in Zukunft geben". (Muzayen Al-Youssef, 2.1.2023)

*Name auf Wunsch geändert