Mahamat Idriss Déby, Übergangspräsident des Tschad, der länger bleiben will.

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Succès Masra ist Vorsitzender der einflussreichen zivilen Gruppierung Les Transformateurs.

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Proteste in N’Djamena.

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Mahamat Idriss Déby war erstaunlicherweise auch dabei. Anders als seine Amtskollegen aus Mali, Burkina Faso, Guinea und dem Sudan, die dem US-Afrika-Gipfel Mitte Dezember in Washington fernbleiben mussten: Als Putschisten, die in ihrer Heimat die Macht durch einen Coup an sich gerissen haben, hatten sie in der Hauptstadt der freien und demokratischen Welt nichts zu suchen. Für den Staatschef des Tschad galt der Bann allerdings nicht: Er wird von US-Präsident Joe Biden mit herzlichem Handschlag begrüßt und nimmt anstandslos an allen Sitzungen des dreitägigen Megatreffens teil.

Dabei riss auch der 39 Jahre junge Fünf-Sterne-General die Macht in seiner Heimat durch einen Coup an sich. Nach dem Tod seines Vaters im April vor zwei Jahren löste er das Parlament auf, setzte die Verfassung außer Kraft und erklärte sich zum Chef eines "Militärischen Übergangsrats". Die Gastgeber des US-Gipfels begründeten die Ausnahmeregelung für den Putschistenchef mit einem Verweis auf die Afrikanische Union: Auch sie habe die Militärregierung in dem Sahel-Staat anerkannt, hieß es in Washington. Als ob sich die US-Regierung jemals von dem Urteil des afrikanischen Staatenbunds abhängig gemacht hätte. In Wahrheit unterscheidet Mahamat von seinen Coup-Kollegen, dass sein Putsch im Interesse der Supermacht lag – getreu dem Diktum Franklin D. Roosevelts: "Er mag ein Hurensohn sein. Aber er ist unser Hurensohn."

Verlängerte "Übergangs"-Herrschaft

Nicht einmal der Umstand, dass der Militärchef knapp zwei Monate vor dem Gipfel Proteste in Tschads Hauptstadt N'Djamena blutig niederschlagen ließ, konnte die US-Regierung zu einer Ausladung ihres "Hurensohns" bewegen. Am 20. Oktober hatten sich Tausende von Demonstranten in N'Djamenas Straßen versammelt, um den Usurpator an sein Versprechen zu erinnern, noch im Jahr 2022 freie und faire Wahlen abzuhalten.

Stattdessen verlängerte Mahamat seine "Übergangs"-Herrschaft um weitere zwei Jahre und befahl seinen Sicherheitskräften, den Protesten mit scharfer Munition ein Ende zu setzen. Die Bilanz: mindestens fünfzig Tote, rund 300 Verletzte und mehr als 600 inhaftierte Demonstrierende. Sowohl die Afrikanische als auch die Europäische Union gaben sich entsetzt: Das seien "schwere Verstöße" gegen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gewesen, hieß es. Vom Übergangsstaatschef wurde eine rückhaltlose Aufklärung der Vorfälle verlangt. Stattdessen spricht Mahamat von einem "minutiös vorbereiteten Umsturzversuch" und lässt mehr als 400 Protestierende vor Gericht stellen. Sie wurden in einem 600 Kilometer von der Hauptstadt entfernten Hochsicherheitsgefängnis inzwischen abgeurteilt. Und das alles gut sechs Wochen vor Mahamats Einladung nach Washington.

Von Brandherden umgeben

Die US-Regierung lässt – wie die französische – den Sohn des "Löwen des Sahel" uneingeschränkt herrschen. Sein Vater Idriss Déby Itno bestimmte 31 Jahre lang die Geschicke des Tschad: nicht auf sanfte Weise, aber verlässlich. Letzteres ist im Fall des Landes im Herzen des Kontinents besonders wichtig, denn der Tschad ist an allen Seiten von Brandherden umgeben. Im Norden vom chaotischen Libyen; im Osten von den sudanesischen Darfur-Provinzen; im Süden von der Staatsruine der Zentralafrikanischen Republik; und im Westen von den Leichenfeldern der Islamistenmiliz Boko Haram. Sie haben die Vier-Länder-Region um Kamerun, Nigeria, den Niger und Tschad zur Hölle gemacht.

Falls auch der zentrale Sahel-Staat von einer schwächlichen, vom Volk gewählten Partei regiert würde, könnte das Herz Afrikas vollends in Flammen aufgehen, fürchten westliche Diplomaten: Alleine schon deshalb müsse der Tschad als Sonderfall behandelt werden.

Zweierlei Maß

"Blind und taub" betrachte der Westen den 17 Millionen Einwohner zählenden Staat alleine unter dem Gesichtspunkt der Stabilität, klagt Remadji Hoinathi vom Institut für Sicherheitsstudien in Senegals Hauptstadt Dakar: "Paris ist überzeugt davon, dass das Land auf Messers Schneide stehe und jeden Moment zusammenbrechen könnte." Statt "starker Institutionen" unterstütze der Westen im Tschad "starke Männer und starke Regime", fügt der tschadische Anthropologieprofessor hinzu: als ob die "freie Welt" nicht seit Jahrzehnten das genaue Gegenteil predige.

Der Grundsatz, dass ein undemokratisches Regime weniger stabil als ein demokratisches ist, kommt in diesem Fall offenbar nicht zur Anwendung: obwohl Statistiken zeigen, dass Diktaturen wesentlich instabiler und gewalttätiger als Demokratien sind. Man muss dazu nur eine Sudanesin, Russin, Iranerin oder Burmesin befragen.

Zahlreiche Rebellenbewegungen

Den Tschad als Hort der Stabilität zu bezeichnen klingt ohnehin verwegen. In dem Staat von der doppelten Größe Frankreichs sind zuweilen bis zu vierzig Rebellenbewegungen aktiv. Manchmal dringen diese sogar – wie vor drei Jahren – bis in die Hauptstadt N'Djamena vor, von wo sie nur mit Hilfe der französischen Luftwaffe zurückgeschlagen wurde. Trotzdem verstand es Mahamats Vater, sich stets als starker und verlässlicher Partner des Westens zu geben: Wann immer gefragt, stellte der einstige Luftwaffenoffizier und Helikopterpilot auch seine Truppen zur Verfügung.

Ob in Mali gegen die Islamisten oder am Tschadsee gegen Boko Haram oder in der Zentralafrikanischen Republik neben einer Blauhelmtruppe: Stets leistete der "Boss des Sahels" wertvolle Dienste, auch wenn Hunderte seiner Soldaten dabei ihr Leben ließen. Schließlich sogar der Dauerpräsident selbst.

Wie Idriss Déby Itno am 20. April 2021 im Kampf gegen die vom Norden auf die Hauptstadt N'Djamena vorrückenden Rebellen der "Front für eine Wende und Einheit" (Fact) ums Leben kam, steht auch fast zwei Jahre nach seinem Aufsehen erregenden Tod nicht eindeutig fest. Manche meinen, der 68-jährige Präsident sei von eigenen Leuten umgebracht worden. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass ihn ein Rebellengeschoß in seinem gepanzerten Jeep traf. Der in Frankreich ausgebildete Berufssoldat hatte sich seiner Gewohnheit entsprechend an die Front chauffieren lassen, um dort seine Truppen anzufeuern: nur dass das Public-Relations-Manöver in diesem Fall tödlich endete.

Gebrochene Versprechen

Débys Getreuen war vom unzeitigen Ableben ihres Präsidenten dermaßen überrascht, dass sein Tod mehr als 24 Stunden lang geheim gehalten wurde. Erst danach war seine Nachfolge geklärt: Débys ältester Sohn Mahamat wurde zum Übergangspräsidenten gekürt. Ihm scheint das Herrschen dermaßen Spaß zu machen, dass er nicht mehr davon lassen will. Nicht nur, dass er seine Übergangsherrschaft verlängerte, er brach auch ein zweites Versprechen: Der junge General will sich nun doch als Kandidat aufstellen lassen, wenn die Tschader und Tschaderinnen in zwei Jahren endlich wieder ihren Präsidenten wählen können. Falls es tatsächlich dazu kommt.

Der schon von seinem Vater zum Nachfolger auserwählte Sohn schlug nach seinem Coup zunächst versöhnliche Töne an. Er kündigte eine kurze, höchstens anderthalbjährige Übergangszeit bis zu freien und fairen Wahlen an, stellte eine Amnestie für Rebellen in Aussicht und versprach einen "Nationalen Dialog", in dessen Rahmen eine neue Verfassung ausgearbeitet werden sollte. Doch schon nach wenigen Monaten hatte Mahamat sämtliche Versprechungen gebrochen: Er verlängerte die Übergangszeit auf dreieinhalb Jahre, setzte die Amnestie aufs Abstellgleis und verprellte die wichtigsten Akteure der bewaffneten und unbewaffneten Opposition, die alle ihre Teilnahme am "Nationalen Dialog" absagten. Dem Usurpator traut heute kaum noch jemand.

Zugang zum Internet

Die tschadische Bevölkerung lernte inzwischen Wesentliches dazu. Als das Internet vor knapp zehn Jahren endlich auch den Tschad erreichte, stemmte sich Idriss Déby mit allen Mitteln gegen die Transparenz fördernde Technologie. Er regelte den Zugang zum Internet mit einem Wust an Restriktionen und ließ ihn dermaßen teuer machen, dass er nur für Privilegierte, meist Freunde des Regimes, infrage kam. Erst als Déby erkannte, dass er das Netz für eigene Zwecke nutzen konnte, ließ er vor drei Jahren mit den Restriktionen auch die Preise fallen. Inzwischen ist der Zugang zum Netz hier preiswerter als in jedem anderen afrikanischen Staat.

Fast 20 Prozent der Bevölkerung tummeln sich regelmäßig im Cyber-Space. Sie tauschen sich auf Facebook über ihren Widerwillen gegenüber der Militärdiktatur aus, surfen nach den Erfahrungen anderer Länder im Kampf für die Demokratie und verabreden sich über Whatsapp für Protestkundgebungen. Unwahrscheinlich, dass sie sich wieder – wie unter Mahamats Vater – einem stummen Schicksal ergeben.

Es gibt sehr wohl Oppositionsgruppen im Tschad – auch wenn sie sich nach über drei Jahrzehnten Déby-Herrschaft nicht in blühendem Zustand befinden. Doch die meisten Gegner des Präsidenten organisierten sich in Rebellengruppen – und die waghalsigsten unter ihnen stammen aus Débys eigener Familie, wie Débys Neffe, Timan Erdimi.

Schwache Opposition

Auch die ethnische Zugehörigkeit spielt im Tschad wie in den meisten afrikanischen Staaten eine wichtige Rolle: Die Débys gehören dem im Norden des Landes lebenden Volk der Zaghawa an, ihre wichtigsten Opponenten sind die Sara aus dem Süden des Landes. Unter dem Einfluss moderner Kommunikationstechnologien lösen sich solche eher altertümlichen Trennungen allerdings zunehmend auf. "Wakit Tama" ist eine im Januar vor zwei Jahren gegründete oppositionelle Plattform aus mehr als 30 Parteien und zivilgesellschaftlichen Gruppen, die Mitglieder aus dem gesamten Land vereint.

Auch die zweite einflussreiche zivile Gruppierung – "Les Transformateurs" unter ihrem 39-jährigen Vorsitzenden Succès Masra – ist nicht ethnisch definiert. Zu ihren meist jugendlichen Anhängern gehören auch einige Influencer in den sozialen Netzwerken, die Zigtausende an Followern haben. Gemein ist Wakit Tama und Les Transformateurs, dass sie den anhaltenden Einfluss der ehemaligen französischen Kolonialmacht für einen Großteil ihrer Unzufriedenheit verantwortlich machen: Ihrer Auffassung nach werden in Paris (und Washington) die Strippen für die Déby-Dynastie gezogen. Auf ihren Kundgebungen pflegen sie den Abzug Frankreichs aus dessen traditionellen Einflussgebieten zu fordern: wie in Mali und Burkina Faso, wo sich inzwischen auch dezidiert antifranzösische Militärs an die Macht geputscht haben.

Russische Einflussnahme

Bei den Protesten im Tschad wird oft die Trikolore verbrannt und eine Flagge mit denselben Farben, aber in anderer Anordnung geschwungen: die russische. Das Putin-Reich versucht in mehreren westafrikanischen Staaten, die in die Defensive geratene Ex-Kolonialmacht zu beerben. Vor allem bietet Moskau den von islamistischen Extremisten bedrängten Regierungen die "private" Söldnergruppe Wagner als martialische Helfer an.

Der Trend wird im Westen mit größter Skepsis verfolgt. Die russische Einmischung sei rein destruktiver Natur, heißt es dort. Alternative Entwicklungsziele für die traumatisierte Sahel-Zone habe Moskau keine zu bieten. Allerdings sollten weder Paris noch Washington über den bedrohlichen Trend verwundert sein: Ihre verhängnisvolle Stabilitätspolitik treibt die tschadische Bevölkerung in das Lager des Gegners – ein Vorgang, wie er noch aus den Zeiten des Kalten Krieges bekannt ist. (Johannes Dieterich, 3.1.2023)