Passt er, oder passt er nicht, das ist wieder mal die Frage. Online ein Kleidungsstück zu bestellen ist mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden, das haben mich etliche Einkäufe gelehrt. Die Größe M eines T-Shirts schwedischer Marken ist nicht gleich wie die spanischer Retailer. Das eine sitzt, das andere zwickt. Auch der Testkauf für diesen Text geht in die Hose, ausgerechnet. Die Latzhose aus recyceltem Baumwollgemisch, geordert bei einer spanischen Kette in Größe M, sitzt hinten und vorne nicht – offenbar half auch die Größentabelle nicht weiter. Zurück mit dem Teil.

Wer soll sich denn da noch auskennen bei all den unterschiedlichen internationalen Größen? Die Briten schneidern großzügiger als italienische oder französische Textilunternehmen; Kleidungsstücke von Fast-Fashion-Ketten mit jungen Zielgruppen wiederum fallen wie Kindergrößen aus; manche Modelabels haben sogar begonnen, sich völlig neue Größensysteme auszudenken. Außerdem ist seit den Achtzigerjahren ausgehend von den USA ein weiteres Phänomen zu beobachten: Hersteller wollen der Kundschaft in den Umkleidekabinen ein gutes Gefühl vermitteln.

Die Marken wissen: Konsumentinnen und Konsumenten fühlen sich besser, wenn sie in kleinere Größen passen – gut gestimmt sitzt das Geld lockerer. So wird ein Rock in Größe M großzügig mit einem S-Schildchen versehen. Diese Entwicklung hat sich über Jahrzehnte abgezeichnet. Eine US-"Damengröße" 12 des Jahres 1958 entspricht der heutigen Größe 6 – klingt doch gleich viel besser! Vanity-Sizing nennt sich das Phänomen der auf die jeweilige Zielgruppe ausgerichteten, schmeichelnden Konfektionsgrößen.

Erst unlängst bewies ein Test für die kanadische Verbrauchersendung CBC Marketplace, wie frei Konfektionsgrößen mittlerweile interpretiert werden. Marie-Eve Faust, Professorin an der Universität von Quebec in Montreal, griff zum Maßband und verglich Jeans von sieben Herstellern derselben Größe. Vermessen wurden Hosen von Abercrombie & Fitch bis Wrangler, das Ergebnis: Die meisten Modelle für Frauen wie auch für Männer waren mindestens um einen Zoll – also 2,5 Zentimeter – breiter, als es die angegebene Größe vorsieht.

Eine französische 38, eine US-amerikanische Sechs oder einfach nur Medium? Bei den verschiedenen Konfektionsgrößen kennt sich kaum noch jemand aus.
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Der perfekte Körper

Es gibt noch weitere Gründe für Vanity-Sizing: Die Konfektionsgrößen 36, 44 oder 52 sind seit ihrer Erfindung in den Sechzigerjahren etwa viel mehr als bloße Zahlenreihen. Mit ihnen verbinden Konsumentinnen Schönheitsideale, Körpererfahrungen und Emotionen. Denn allen Widerständen zum Trotz ist die Industrie auf den dünnen, jungen, gesunden Körper ausgerichtet: Angehende Modedesignerinnen und Fashiondesigner lernen im Studium, sich an der Größe 36 zu orientieren, größere Größen wurden lange stigmatisiert, in den Stores in der Plus-Size-Ecke abgestellt, von vielen Unternehmen gar nicht bedient oder nach einigen Body-Positivity-Kampagnen wieder eingestellt.

Gleichzeitig kommen Dinge in Bewegung: Der Retailer H&M verkauft nun größere und kleinere Größen Seite an Seite, auch der Fast-Fashion-Hersteller Mango integriert die Große-Größen-Linie Violeta in die "women’s wear", das angesagte dänische Label Ganni, dessen Wickelkleider lange Zeit dünnen Frauen vorbehalten waren, bietet jetzt Mode in den Größen 32 bis 52 an.

Die Vorstellungen vom perfekten Körper sind dennoch tief verankert, sie spiegeln sich sogar in den Schnittsystemen wider, die Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden und bis heute in der Ausbildung der Modeschulen verwendet werden. "Abweichungen von der Norm werden in den Lehrbüchern oft als ‚Problemfiguren‘ oder ‚Schnittabänderungen für Figurprobleme‘ bezeichnet", erklärt die Wiener Designerin und Schneidermeisterin Klara Neuber mit Befremden. Um verschiedene Körperformen zu bedienen, schneidert sie ihre Konfektionsware "lieber etwas größentoleranter" zu.

Das Auf- und Abwerten von Größen hat bis heute Konsequenzen. Shoppingstreifzüge kommen für viele einer Achterbahnfahrt der Gefühle gleich. Sie sei es gewohnt, dass die Suche nach Klamotten "eine einzige Aneinanderkettung an Erniedrigungen" sei, schreibt eine Endzwanzigerin auf dem Diskussionsportal Reddit. Unter dem Beitrag tausende Likes, hunderte Kommentare, viele bestätigen die Erfahrungen der Frau.

Größer und breiter

Das alles war so nicht vorhersehbar, als die Brüder Valentin und David Manheimer Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin auf die Idee kamen, Kleidung in Serie herzustellen. Die Unternehmer vermaßen erstmals hunderte Frauenkörper und vergaben bunte Sterne für die unterschiedlichen Größen. Im Rahmen dieser Messungen tauchten auch die Zahlen 36, 38, 40 als Angaben über die halbierte "Oberleibweite" auf. Vereinheitlicht wurde das Größensystem aber erst, als die Kleidung von der Stange die selbstgeschneiderte Mode ablöste. Das war in den 1960er-Jahren.

Zuvor, im Jahr 1957, hatte das Hohenstein-Institut im baden-württembergischen Bönnigheim seine erste Reihenmessung durchgeführt. Die stichprobenartig gesammelten, regelmäßig neu erfassten Daten dienen seither als Grundlage für das Erstellen von Maßtabellen für Konfektionskleidung. Bei der letzten großen Messung im Jahr 2009 stellte sich allerdings heraus: Die letzte Datenerfassung in den Neunzigerjahren war in die Jahre gekommen, die Deutschen sind seither größer und breiter geworden. Die durchschnittliche Kleidergröße der 13.362 im Jahr 2009 vermessenen Männer und Frauen zwischen sechs und 87 Jahren entsprach der Größe 40 bis 42, bei den Männern einer 54. Heute sehen die Körpermaße vermutlich schon wieder anders aus.

Das Größenchaos und die damit verbundenen Onlineretouren bescheren den Modeunternehmen verheerende Umsatzeinbußen. Laut einer Erhebung des österreichischen E-Commerce-Gütezeichens schicken 81,2 Prozent der Frauen und 64,7 Prozent der Männer online bestellte Kleidung zurück. Der Shopping-Software-Plattform Shopify hat in einer Studie festgestellt, dass 65 Prozent der Retouren darauf zurückzuführen ist, dass die Kleidergrößen anders ausfallen als angenommen.

Shoppen mit Körperscans

Das Problem haben nicht nur große Konzerne, sondern auch kleinere Modemarken. Bei dem in Wien ansässigen Label Dariadéh liegt die Retourenrate mit 19 bis 23 Prozent zwar weit unter dem Durchschnitt, doch Sophie Meisinger von Dariadéh sagt: "Das ist für unsere Verhältnisse leider hoch." Mit dem Wachstum der Marke seien auch die Rücksendungen gestiegen. Es bedürfe noch mehr Aufklärung, erklärt sie. Auch weil bei dem Modelabel die Größen großzügiger ausfallen und ein S "eher einem M bei anderen Brands" entspräche.

Das Unternehmen behilft sich im Onlineshop mit Maßtabellen. Wie das aussieht? Die Hose Harry des Labels gibt es in Größe XS bis 3XL, daneben sind Zentimeterangaben zu Hosenlänge, Bund-, Oberschenkel- und Saumbreite gelistet. Als Szenarien für die Zukunft gelten aber 3D-Bodyscans und Smart Mirrors, die in den Stores die Daten der Kundschaft erfassen, sowie Körpervermessungs-Apps, die beim Onlineshopping helfen sollen.

Zwar spielen virtuelle Dressing-Tools auf dem deutschsprachigen Markt bisher kaum eine Rolle, doch international herrscht Goldgräberstimmung, mit dem Zugriff auf die Körpermaße der Kundschaft eröffnet sich den Unternehmen ein enormer Datenschatz. 2021 übernahm Snapchat die deutsche Firma Fit Analytics, deren Software die passende Kleidergröße für Kunden ermittelt, das Hohenstein-Institut hat 1,3 Millionen Euro in eine Kooperation mit dem Münchner Unternehmen Sizekick investiert.

Trainiert wird die künstliche Intelligenz, die für die Kundschaft die passenden Kleidergrößen ermitteln soll, mithilfe der Datenbank von 3D-Körperscans von Hohenstein, 2023 will man auf den Markt. Greifbarer sieht die Sache beim Onlinehändler Zalando aus. Auf der Website können Produkte des Herstellers Puma virtuell anprobiert werden. Dazu werden Gewicht, Geschlecht sowie Körper- und Kleidergröße angegeben. Anschließend führt ein personalisierter Avatar die Jogginghose vor. Doch der Sitz der Kleidung bleibt abstrakt, Lust aufs Einkaufen macht die Animation erst recht nicht. Dann doch lieber erst einmal genauer die Maßtabellen studieren. (Anne Feldkamp, 4.1.2023)