Als der weiße Bus am Bahnhof Wien-Meidling zum Stehen kommt, ist es bereits dunkel draußen. Armin und Helga steigen aus. Mit routinierten Handgriffen öffnen sie den Kofferraum, klappen einen Biertisch auf und hieven einen großen Bottich aus dem Wagen. Daneben platzieren sie rote Schüsseln, weiße Plastikbecher, Löffel und Brot. Alles hat seinen Platz. Immer wieder reibt sich Armin die Hände, er hüpft ein paar Mal auf und ab. Es ist kalt an diesem Montag – aber es gibt Menschen, die auf ihn warten.

Die Busgäste warten geduldig am Bahnhof Wien-Meidling, bis sie an der Reihe sind.
Foto: Christian Fischer

Armin und Helga sind zwei der knapp 140 freiwilligen Helferinnen und Helfer des Canisibusses der Caritas. Sie kochen warme Mahlzeiten, die sie auf zwei unterschiedlichen Routen mit jeweils vier Stopps in ganz Wien an "Busgäste" verteilen. Die 69-jährige Helga ist an diesem Tag schon länger im Einsatz. Sie hätte in ihrer Pension etwas Sinnvolles machen wollen, erzählt sie vor der Ausfahrt in der kleinen Industrieküche des Suppenbusses im 16. Wiener Gemeindebezirk. Als sie das Gebäck schneidet, legt sich der Geruch geschnittener Schwarz- und Weißbrotscheiben über den der kräftigen Suppenwürze.

Die freiwillige Helferin Helga in der Industrieküche.
Foto: Christian Fischer

Vier Bottiche, gefüllt mit dampfender Bohnensuppe, warten auf ihren Einsatz. Der Koordinationsleiter des Canisibusses, Josef Heinzl, rechnet – wie auch an den Tagen zuvor – mit insgesamt rund 200 Busgästen. Für die kalte Jahreszeit, in der viele Notquartiere geöffnet haben, ist diese Zahl vergleichsweise hoch. "Der Dezember hat mich überrascht", sagt er.

Andere Gesichter

Nicht nur der Bedarf an warmen Mahlzeiten hat sich vervielfacht. Auch die Gesichter der Busgäste sind andere geworden: Eine interne Statistik des Suppenbusses zeigt, dass sich immer mehr junge Menschen unter 30 und ältere Personen mit Mindestpension um eine Suppe anstellen. Waren es im Jahr 2007 noch sieben Prozent, sind 15 Jahre später 22 Prozent der Gäste Pensionistinnen und Senioren. Die Anzahl der Busgäste mit Beschäftigung ist von 2007 bis 2022 von ein auf neun Prozent ebenfalls deutlich gestiegen.

In den geordneten Warteschlangen vor dem Bus sind die Gesichter an diesem Abend meist nur verdeckt zu sehen. Um sich vor der Kälte zu schützen, sind die Hauben tief in die Stirn gezogen, die Schals straff um den Mund gewickelt. Vielleicht wollen die Menschen aber auch nicht erkannt werden. Niemand nennt seinen Namen, aber viele erzählen ihre Geschichte.

Ein 42-Jähriger kommt seit einigen Monaten fast täglich an unterschiedlichen Orten zum Canisibus. Er besitzt eine Wohnung am Stadtrand, hat Long Covid und ist auf der Suche nach Arbeit. Warum er sich Suppe holt? "Weil i jeden Tag munta werd und net weiß, wos i z’erst zahlen soll. Die Stromkosten sind so hoch, des kann sich jo kana mehr leisten." Eine der wenigen Frauen, die sich für eine Mahlzeit anstellt, lebt seit knapp zwei Jahren auf der Straße. Wo sie heute schlafen werde, wisse sie noch nicht. "Es ist zu kalt zum Schlafen", sagt sie und zuckt zaghaft mit den Schultern. Die 50-Jährige ist berufsunfähig und in Frühpension.

An diesem Montag verteilen die freiwilligen Helfer Armin (rechts) und Helga (links) Bohnensuppe, Brot und Äpfel.
Foto: Christian Fischer

Auf dem Weg zum nächsten Stopp isst Armin selbst einen Becher Suppe. Immer wieder beginnt es, leicht zu regnen, die Heizung im Wagen ist mittlerweile voll aufgedreht. Als der Canisibus am Hauptbahnhof hält, sind unter den rund 46 Wartenden auch mindestens 25 Menschen, die aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Österreich geflohen sind – darunter auch zwei Kinder. Die beiden sprechen kein Deutsch und nur gebrochenes Englisch. Mit ihren Fingern zählen sie ihr Alter – sie sind zwölf und 14. Einer der beiden zieht an seiner dünnen Jacke und schlingt seine Arme um sich – er fragt nach Winterkleidung.

Dass immer wieder Geflüchtete, mitunter aus der Ukraine, zu den Busgästen zählen, ist keine Seltenheit. Laut Heinzl geschehe dies in Wellen: "Gerade zu Kriegsbeginn waren es teilweise sehr viele Menschen. Dann ist es weniger geworden, und jetzt kommen wieder mehr." Für den Canisibus-Koordinator liegt der Grund für diesen Anstieg am Winter in der Ukraine. Der Großteil sei aber auf der Durchreise.

Dennoch erzählt Armin von geflüchteten Menschen, die er auf seinen Touren schon öfter gesehen habe. Auch Heinzl bestätigt, dass manche in der Grundversorgung "immer wieder" kommen würden. Laut dem Fonds Soziales Wien erhalten Menschen in der Grundversorgung in einer betreuten Unterkunft 6,50 Euro pro Tag, "sofern der Träger nicht das Essen zur Verfügung stellt". Wohnen grundversorgte Erwachsene privat, beziehen sie 260 Euro zur Verpflegung pro Person und Monat – zwischen acht und neun Euro täglich.

Helga: "Wenn euch kalt wird, haltet euch an einem Glas Suppe fest."
Foto: Christian Fischer

Wenige Minuten, eine Geschichte

Die zwei besonders jungen Busgäste vermerkt Helga in den internen Aufzeichnungen separat. Allzu oft komme es nicht vor, dass sich Minderjährige ohne Verwandte um eine Suppe anstellen, erklärt Armin. "Es kann nicht sein, dass zwei Kinder auf der Straße auf sich allein gestellt sind", sagt er. Seine Stimme wird dabei eine Spur lauter.

Am Wiener Westbahnhof befindet sich der vierte und letzte Halt des Suppenbusses. Dort verstauen Armin und Helga den halb leeren Bottich nach knapp 15 Minuten schön langsam wieder im Wagen. So lange steht der Canisibus ungefähr an seinen Stationen, das aber jeden Tag. "Auch wenn man nur wenige Minuten dort sein kann, hört man immer wieder eine neue Lebensgeschichte", sagt Armin. Insgesamt wurde der Suppenbus an diesem Abend von 117 Gästen besucht.

Als die beiden freiwilligen Helfer die Bustüren schließen und den Motor starten, ist es noch kälter geworden. Was bleibt, ist ein Tipp von Helga: "Wenn euch kalt wird, haltet euch an einem Glas Suppe fest." (Anna Wiesinger, 4.1.2023)