Bisher ist Kevin McCarthy nicht Sprecher des US-Repräsentantenhauses.

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Drei Wahlgänge, kein Gewählter in Washington: Was nicht viel mehr als eine Formsache sein könnte, wurde am Dienstag zur unangenehmen Nabelschau für die Republikanische Partei in den USA. Dass auch im dritten Wahlgang im Repräsentantenhaus kein Sprecher beziehungsweise keine Sprecherin der wichtigen US-Institution gefunden werden konnte, offenbart die innere Zerrissenheit der Grand Old Party.

Doch wie konnte es so weit kommen? Was ist im Repräsentantenhaus, einer der zwei Kongresskammern, also so etwas wie dem US-amerikanischen Parlament, passiert? DER STANDARD beantwortet die wichtigsten Fragen.

Frage: Was genau sollte am Dienstag eigentlich passieren?

Antwort: Erstmals nach den Zwischenwahlen vom November trat das Repräsentantenhaus in neuer Besetzung zusammen – womit die Republikaner die Mehrheit in der Kammer übernahmen. Bis zu den Midterms hatten die Demokraten dort die Mehrheit gehabt. Sprecherin, also Vorsitzende der Kammer und formell dritthöchste Vertreterin der USA, war Nancy Pelosi. Durch die Wahl haben sich die Mehrheitsverhältnisse geändert, die Demokraten mussten an die Republikaner übergeben. Mit 222 zu 213 Mandaten fiel das Ergebnis allerdings überraschend knapp aus, nach dem Tod eines demokratischen Abgeordneten steht es bis zu einer Nachwahl 222 zu 212.

Als neuen Sprecher nominiert hatten die Republikaner Kevin McCarthy, einen Abgeordneten aus Kalifornien. Doch dieser konnte weder im ersten noch im zweiten oder dritten Wahlgang die notwendigen Stimmen erringen. Das war seit hundert Jahren nicht mehr passiert.

Frage: Wie viele Stimmen hätte McCarthy überhaupt gebraucht?

Antwort: Im Repräsentantenhaus gibt es 435 Sitze, für die Wahl ist eine absolute Mehrheit der gültigen Stimmen nötig. Stimmen alle ab, bräuchte McCarthy also 218 Stimmen, um gewählt zu werden. Fehlen Abgeordnete bei dem Votum, senkt sich dieser Schwellenwert. Ebenso können Mandatarinnen und Mandatare mit "present", also anwesend, abstimmen – was funktionell einer Stimmenhaltung gleichkommt und ebenfalls das Quorum senkt. Das ist am Dienstag aber nicht passiert, alle 434 gaben gültige Stimmen ab. Ein beträchtlicher Teil seiner Parteikollegen stimmte also nicht für McCarthy, sondern dezidiert für einen Gegenkandidaten beziehungsweise eine Gegenkandidatin aus der eigenen Partei.

Unter anderem stimmten Abtrünnige für eine Hardlinerin aus Colorado, Lauren Boebert.
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Frage: Wie viele Stimmen hat McCarthy jeweils bekommen?

Antwort: Im ersten Wahldurchgang erhielt McCarthy 203 Stimmen, 19 Republikaner stimmten für andere Personen, etwa Lauren Boebert (Colorado), Matt Gaetz (Florida) oder Paul Gosar (Arizona), die allesamt zum rechten bis rechtsradikalen Flügel der Partei gehören. Boebert hat mit lauten Rufen nach äußerst liberalen Waffengesetzen auf sich aufmerksam gemacht, bestreitet die Gültigkeit der Wahl von 2020 und steht im Verdacht, sich im Vorhinein mit manchen jener Gruppen koordiniert zu haben, die beim Putschversuch vom 6. Jänner 2021 den Kongress stürmten. Gaetz gilt nicht nur als äußert radikaler Trumpist, sondern steht seit 2020 auch im Fokus von Untersuchungen, die sich gegen ihn und vor allem seinen Anwaltspartner Joel Greenberg richten, wobei es um den Verdacht auf Menschenhandel zur Prostitution Minderjähriger geht. Mittlerweile scheint aber unwahrscheinlich, dass gegen Gaetz selbst Anklage erhoben wird.

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Jim Jordan bekam mehr als ein Dutzend Stimmen bei den Republikanern.
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Im zweiten Wahldurchgang stimmten die gleichen Republikaner erneut für einen Gegenkandidaten, diesmal vereint für Jim Jordan aus Ohio, obwohl der weit rechts stehende Mandatar selbst McCarthy unterstützt. Im dritten Wahlgang schloss sich ein weiterer Abgeordneter den Parteiabtrünnigen an. Zwanzig Stimmen gingen daher an Jordan und nicht an McCarthy.

Frage: Warum haben sich die Parteikollegen gegen McCarthy gestellt?

Antwort: Den 19 beziehungsweise 20 Personen, die für andere Kandidaten und Kandidatinnen stimmten, ist McCarthy nicht konservativ genug. Der ultrakonservative Parteiflügel wirft ihm vor, in seiner Zeit als Minderheitsführer im Repräsentantenhaus, also ab 2019, nicht aggressiv genug den Demokraten unter der damaligen Vorsitzenden Pelosi die Stirn geboten zu haben. Er sei außerdem wankelmütig, meinen andere: "Er ist Teil des Problems. Er ist nicht Teil der Lösung", hat etwa der Abgeordnete Bob Good auf Fox News zu Beginn der Woche gesagt.

McCarthy hat bereits reagiert und in Aussicht gestellt, auf einige Forderungen der Gruppe einzugehen. Bei Zusagen zu Ausgabenkürzungen war er bisher zurückhaltend, allerdings zeigte er sich offen dafür, einen Mechanismus umzusetzen, um die Macht des Sprechers empfindlich einschränken. So könnten bereits fünf Abgeordnete eine Art Misstrauensvotum im House initiieren – McCarthy wäre damit quasi während seiner gesamten Amtszeit ein Sprecher auf Abruf und von allen Flügelorganisationen der Partei ständig abhängig.

Frage: Wie geht es jetzt weiter im Repräsentantenhaus?

Antwort: Ob entsprechende Vereinbarungen für McCarthy ausreichen, bleibt ungewiss. Am Mittwoch ab Mittag Ortszeit soll wieder gewählt werden, nachdem die Sitzung am Dienstag vertagt worden war. McCarthy wird wieder antreten, gab er bekannt. Dazu holte er sich noch die Unterstützung von Ex-Präsident Donald Trump: Dieser habe ihm telefonisch versichert, dass er für ihn sei, sagte er. Später rief Trump auch selbst in Online-Medien zu McCarthys Wahl auf.

Doch auch andere haben sich nun in Stellung gebracht: Allen voran wird da Jim Jordan genannt, der im zweiten Wahlgang am Dienstag alle Rebellenstimmen auf sich vereinen konnte. Der erklärte Trump-Anhänger hat sich eigentlich im Vorfeld hinter McCarthy gestellt. Fraglich ist, ob er ausreichend Unterstützung in jenem Teil der Republikanischen Partei sammeln kann, der sich für Regierungs- und Parlamentsarbeit interessiert und nicht ausschließlich auf Krawall ausgerichtet ist.

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Der Demokrat Hakeem Jeffries hat alle seine Parteikollegen hinter sich.
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Frage: Was machen die Demokraten einstweilen?

Antwort: Bei den Demokraten verlief der Dienstag um vieles unaufgeregter. Bei allen Wahlgängen konnte der Abgeordnete für einen Distrikt von New York City, Hakeem Jeffries, 212, also alle demokratischen Stimmen, auf sich vereinen. Jeffries ist somit der Minderheitsführer im House. Theoretisch könnten die Demokraten natürlich dem politischen Gegner dabei helfen, einen Sprecher zu wählen – etwa um den Erfolg eines extrem rechten Kandidaten zu verhindern. Wenn genug Demokraten etwa für den – im Vergleich zu den Hardliner-Rebellen – gemäßigten McCarthy stimmen würden, könnte die Blockade überwunden werden. Ebenso würde es McCarthy helfen, wenn, was denkbarer erscheint, ausreichend Demokaten der Abstimmung fernbleiben und so das Quorum senken.

Jeffries winkte in dieser Angelegenheit aber bisher ab: "Wir suchen einen willigen Partner, der die Probleme der amerikanischen Menschen löst und nicht jene, die die Republikaner mit ihrer Dysfunktion haben", sagte er Dienstagnacht in US-Medien. (Anna Sawerthal, Manuel Escher, 4.1.2023)

Video: STANDARD-Redakteur Eric Frey über das republikanische Wahldilemma im US-Repräsentantenhaus.
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