Wer behauptet, Protest verändere nichts, hat ein schlechtes Gedächtnis oder einfach keine Ahnung. Die Leute, die am 1. Dezember 1955 eine Frau namens Rosa Parks festgenommen hatten, weil die sich weigerte, im Bus in Montgomery im US-Bundesstaat Alabama ihren Sitzplatz zu räumen, der nur für weiße Mitfahrende reserviert war, gehörten mit großer Sicherheit zur zweiten Kategorie, aber das änderte sich, denn Rosa Parks' Protest mündete in die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, und kaum acht Jahre später war Washington, D.C. mit Protestierenden geflutet, und Martin Luther King hielt seine berühmteste Rede – "I Have a Dream".

Protestieren bedeutet, wenn man es aus dem Lateinischen übersetzt, so viel wie "etwas öffentlich bezeugen". So viele Menschen wie möglich sollen auf etwas hingewiesen werden, was falsch, unrecht, unfair, den herrschenden Vorstellungen von Ethik und Moral zuwiderlaufend ist oder dafür gehalten wird. Diese Unterscheidung, ja Abgrenzung ist wichtig, sie hat einen guten Grund.

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es, und gut ist erst denken, dann handeln. Dazu darf man aber nicht die letzte Generation sein wollen, sondern die erste.
Foto: Der Standard, FoSpe

Es gibt hochriskanten Protest, etwa den einer schwarzen Bürgerrechtskämpferin im rassistischen Alabama oder Martin Luther Kings letztlich tödliches Engagement für mehr Gerechtigkeit, die Proteste der Frauen des Iran und der Studenten vom Tian'anmen und von Hongkong, den Widerstand der Ungarn und Tschechen gegen die russischen Okkupanten 1956 und 1968. Dieser Protest ist Widerstand gegen existenzielle Bedrohung. Er ist glaubwürdig, weil die Menschen, die ihn betreiben, ihr Leben aufs Spiel setzen, ihre Freiheit, Gesundheit.

Der Protest wohlhabender Westkinder hat ein Design, in dem Selbstüberschätzung eine entscheidende Rolle spielt.

Selbstdarstellung statt Veränderungswille

Das heißt natürlich nicht, dass der Protest im bildungsbürgerlichen Milieu, der nach dem Vorbild der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung insbesondere an Universitäten und Hochschulen seit den 1960er-Jahren zur Normalität geworden ist, nicht legitim wäre. Legitim ist einiges. Aber es war und ist immer ein Unterschied, ob der Protest nun in eigener Sache, auf eigene Gefahr sozusagen, stattfindet, oder ob es genügt, sich zu bekennen, sich solidarisch zu zeigen, öffentliche Aufmerksamkeit für die Sache anderer zu erzeugen.

Wenn ich gegen den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine auf die Straße gehe, dann setze ich mich vielleicht den Beschimpfungen vereinzelter geistiger Querschläger aus dem Hufeisen-Milieu aus. Aber in einer Demokratie geht so was in der Regel glimpflich aus. Das ist sehr gut so. Aber in einer Risikoklasse mit Rosa Parks oder eine iranischen Frau ohne Kopftuch sind wir damit nicht. Allerdings scheinen diesen eigentlich klaren Unterschied nicht alle zu schnallen. Kein Wunder.

Der Protest wohlhabender Westkinder hat ein Design, in dem Selbstüberschätzung eine entscheidende Rolle spielt. Das führt zu einem Protest um des Protestes willen, und dabei geht es dann nicht mehr um die gute Sache, die dabei vertreten werden soll, sondern darum, gut dazustehen. Das ist, um es vorsichtig zu sagen, wenig selbstlos und infantil und nicht schlau. Es ist nur aktionistisch, wie es der kluge slowenische Philosoph Slavoj Žižek schon vor Jahren richtig feststellte.

Protestfolklore

"Don't act, think!", rief er aus – wobei mit "act" eben nicht "handeln", sondern selbstreferenzieller Aktionismus gemeint war, also jene Protestform, die Žižek, selbst Hochschullehrer, nicht fremd sein dürfte – der Protest des Protests wegen. Man könnte auch sagen: Die Protestkultur oder, vielleicht noch präziser, die Protestfolklore hat die aktuelle Generation, wie so vieles andere, geerbt von ihren Großeltern, den schneidigen Achtundsechzigern.

Auch dazu hat Žižek ein gutes Beispiel angeführt: John "Give Peace a Chance" Lennon. Ihm attestierte der Philosoph sogar "intellectual laziness", also schlampiges, faules Denken. Mit seiner Partnerin in Crime, der Aktionskünstlerin (!) Yoko Ono, übte Lennon einen enormen Einfluss auf seine Generation aus – und die Art seines Protests ist bis heute stark verbreitet.

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John Lennon und Yoko Ono inszenierten in ihren Flitterwochen einen "Bettprotest" für den Frieden in einem Amsterdamer Hotel im Jahr 1969.
Foto: AFP / picturedesk.com

Auf einem Foto sieht man John und Yoko etwas indigniert warten – während neben ihnen eine Servicemitarbeiterin die Kissen aufschlägt, damit die berühmten Gäste ihren "Bed-in"-Protest gegen Ungerechtigkeiten aller Art weiterführen konnten. Dieser Kampf für Frieden und Freiheit führte sie durch die besten Hotelbetten der Welt, so auch ins Hotel Sacher. Das war Action im Sinne von Acting, die Lieblingsprotestform der aufstrebenden Aufmerksamkeitsgesellschaft.

Demonstrieren als Ablasshandel?

In dieser geht es nicht zwingend darum, gut zu sein, sondern als gut wahrgenommen zu werden. Moralische Integrität ist damit nicht zwangsläufig mit einer inneren Überzeugung – neudeutsch: Haltung – verbunden, sondern wird zu einem Konsumartikel. Man leistet sich eine Überzeugung, die auf Facebook, Twitter, Linkedin und, wenn man gefragt wird, auch in klassischen Medien zum Ausdruck kommt. Das kostet wenig oder nichts. Der Einsatz ist dabei so gering wie die Wirkung für die Leute oder die Angelegenheiten, die man zu schützen behaupten. Es ist schön, gut zu sein.

Und es lenkt von eigenen Interessen und Motiven ab, dem täglichen Greenwashing, der Beibehaltung alter Strukturen, die hinter dem schönen Protestreden verblassen, beispielsweise. Aber auch Selbsttäuschung gehört dazu. Wohlstandsmenschen haben ständig ein schlechtes Gewissen gegenüber all jenen, die es nicht so gut erwischt haben, nichts erben oder erwerben konnten und deren einziger Luxus im Überleben besteht. Hier hilft dann der Ablasshandel, das John-und-Yoko-Syndrom, bei dem es nicht zuerst ums Helfen und um Solidarität geht, sondern um die Person und das eigene Ansehen einschließlich dessen, was man früher "Seelenfrieden" nannte. Das gibt es, weil echtes Handeln und Machen viel schwieriger wäre.

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es

Jetzt könnte man sagen: Wo ist das Problem, ist doch gut, wenn man auf Probleme aufmerksam macht, Hauptsache, es passiert was! Genau das aber ist "intellectual laziness" pur. Denn es passiert viel zu wenig, etwa gegen die Erderhitzung, aber auch in Sachen Transformation und Selbstbestimmung, in all den Dingen, die für jung und alt essenziell, existenziell sind.

Es wird viel geredet, aber nichts gesagt im gemachten Bett, während man sich selbst als Weltretter und Großgrundbesitzer der Moral fotografieren lässt. Die Last Generation, die den Klimaprotest radikalisiert, hat das offensichtlich verstanden. Sie wenden sich auch gegen das grüne Establishment. Sie wissen, dass Lippenbekenntnisse schaden. Sie wollen nicht nur gut dastehen, Protest inszenieren, weil der Protest fesch ist. Davon hatten wir all die Jahre genug.

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es, und gut ist erst denken, dann handeln. Dazu darf man aber nicht die Letzte Generation sein wollen, sondern die Erste. Die, die was tut, nicht nur Aufmerksamkeit will. Machen statt moralisieren. Das wäre eine echte Revolution, eine Waffe gegen die Change- und Greenwasher, die heute auf allen Kanälen zu sehen, zu lesen und zu hören sind.

Erste Generation

Was ist, so fragte die "Frankfurter Rundschau" kürzlich zu Recht, schon das Festkleben an Bildern gegen das Festkleben an schlechten alten Gewohnheiten? Und wüssten wir nicht alle, dass die "Schwierigkeit" nicht "so sehr in den neuen Gedanken als in der Befreiung von den alten" liegt, wie der Ökonom John M. Keynes vor mehr als acht Jahrzehnten feststellte? Wir kriegen wir was Besseres hin, wenn es uns noch gut geht? Wie werden wir vernünftig, solange noch Zeit ist und keine Not herrscht? Das ist die Frage, die eine Antwort sucht.

Aktionismus reicht nicht, reichte auch für John und Yoko nicht. Es braucht Problemlösungen, praktische Sache, Vorschläge und Idee, nicht nur technische, auch soziale, kulturelle und organisatorische Transformationsarbeit. Alles wird gern genommen, Hauptsache, es ist, wie Niklas Taleb es so schön nannte, "Skin in the Game", also der Spirit, bei dem man merkt: Es geht um die eigene Haut, nicht nur, was die Kontaktstelle Klebstoff und Straße angeht. Wie kriege ich ein System hin, das klimafreundlich ist, ohne die materiellen Bedürfnisse der Menschen zu ignorieren? Wie kann ich in meinem eigenen Umfeld dafür sorgen, dass die Zukunft nicht nur aus Verzicht und Reduktion besteht, sondern aus besseren Perspektiven? Erst denken, dann machen – das würde uns viele Albträume in den gemachten Betten der Wohlstandsgesellschaft ersparen. Wirklicher Protest ist wirkliches Problemlösen.

Raus aus dem Bett, rein ins Leben. Sonst könnt ihr euch gleich wieder hinlegen. (Wolf Lotter, 7.1.2023)