Die Demütigungen des Fraktionschefs der Republikaner, Kevin McCarthy (Mitte), seitens der Ultrarechten sind vor allem ein Symptom für den besorgniserregenden Zustand der Konservativen in den USA.

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Am späten Abend, nach sechs quälend langen Sitzungsstunden voller Niederlagen, holte Matt Gaetz zur ultimativen Demütigung des republikanischen Frontmanns Kevin McCarthy aus: "Ich möchte einen Hausbesetzer melden", schrieb der Abgeordnete aus Florida an die Verwaltung des US-Kongresses und monierte, dass McCarthy bereits das Büro des Parlamentssprechers bezogen habe, ohne gewählt zu sein.

Die Beschwerde des rechtsextremen Parlamentariers, der wie McCarthy der republikanischen Partei angehört, war die bizarre Krönung eines Tages, wie man ihn im ehrwürdigen Washingtoner Kapitol seit 100 Jahren nicht erlebt hat.

Traditionellerweise kommt zu Mittag des 3. Jänner das frischgewählte Repräsentantenhaus erstmals zusammen. Normalerweise ist das ein großes Fest, bei dem die Abstimmung über den mächtigen Posten des Speakers, den zuletzt die Demokratin Nancy Pelosi bekleidet hat, eine Formsache ist.

Verschlossene Türen

Doch an diesem Tag war alles anders. "Ob ich mir das so gewünscht hätte? Nein!", erwiderte McCarthy auf Reporterfragen, bevor er zu einer Krisensitzung hinter verschlossenen Türen verschwand.

Gemäßigte Republikaner empörten sich derweil über die "20 Taliban" in ihren Reihen. Gaetz, der zu den Anführern der Aufständischen gehört, schien das zu gefallen. "So verletzend und falsch die Bezeichnung ist", konterte er, "ich bin für einen langen Kampf vorbereitet, den ich am Ende gewinnen werde."

Nur äußerlich hatte alles wie immer begonnen, als sich die 434 Abgeordneten zunächst zum Gebet und dann zur Wahl versammelten. Viele hatten ihre Familien, auch Kinder, mitgebracht.

Bei genauerem Hinsehen konnte man von der Pressetribüne jedoch kleine Änderungen erkennen: Nancy Pelosi, die bisherige Sprecherin des Repräsentantenhauses, nahm in der achten Reihe auf einer Hinterbank Platz. Auch war von dem Sitzblock der Demokraten eine kleine Ecke abgeschnitten und den Republikanern zugeschlagen worden: Mit 222 zu 212 Abgeordneten halten die Republikaner nun die Mehrheit.

Wie wenig aber die Kopfzahl bedeutet, wurde McCarthy schnell klar. Bei der Abstimmung, zu der die Abgeordneten in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen wurden, war man erst bei B angekommen, als die ersten Republikaner aus der Reihe tanzten. "Biggs", antwortete der Abgeordnete Andy Biggs auf die Frage nach seiner Wahl. Kurz danach erwiderte auch der Kollege Dan Bishop: "Biggs." Eine Minute später war Lauren Boebert dran. "Jim Jordan", lautete ihre Antwort.

So ging das eine Stunde lang. Am Ende des ersten Wahlgangs war klar, dass McCarthy ein gewaltiges Problem hat: Nicht eine Handvoll, wie er schlimmstenfalls befürchtet hatte, sondern 19 Republikaner verweigerten ihm ihre Gefolgschaft. Der 57-Jährige versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Doch sein Lächeln wirkte zunehmend gequält.

Partystimmung bei den Demokraten

Bei den Demokraten kam derweil Partystimmung auf: Deren Frontmann Hakeem Jeffries konnte nicht nur die Fraktion geschlossen hinter sich versammeln, sondern er hatte sogar mehr Stimmen als McCarthy.

Zwar ist es angesichts der Mehrheitsverhältnisse und der Tatsache, dass der Aufstand von Ultrarechten und Rechtsextremen angezettelt wurde, sehr unwahrscheinlich, dass am Ende Jeffries als Sieger vom Platz geht. Aber der Kontrast zwischen dem Chaos und der Zerrissenheit auf der rechten und der Geschlossenheit auf der linken Seite des Hauses war beeindruckend. Lustvoll schmückten die Demokraten ihre namentliche Stimmabgabe für den "wunderbaren" oder "one and only" Jeffries mit positiven Adjektiven.

Derweil holte sich McCarthy im zweiten Wahlgang die nächste Abfuhr: 19 Abweichler für Jordan. McCarthy gab sich kämpferisch und ging in die dritte Runde. Da verweigerten ihm 20 Republikaner die Gefolgschaft. Erschöpft, arbeitsunfähig und paralysiert vertagte sich der Kongress.

Endlich Worte von Trump

Auch als Mittwochmittag Ortszeit das Repräsentantenhaus erneut zusammenkam, gab es keinerlei Anzeichen einer Annäherung. Immerhin konnte McCarthy den rechten Übervater Donald Trump, der am Dienstag dröhnend geschwiegen hatte, zu einer unterstützenden Stellungnahme bewegen. Doch auch das nutzte nichts: Auch im vierten Wahlgang setzte es eine Niederlage.

Ob sich die Ultrarechten beeindrucken lassen? Sie wollen McCarthy, den sie für einen unzuverlässigen Wendehals halten, um jeden Preis verhindern und Zugriff auf alle Ausschüsse erhalten. Inhaltlich kann ihnen der komplett weichgespülte Kandidat gar nicht mehr weiter entgegenkommen. Am Ende könnte die Fraktionsspitze nur einen anderen Bewerber ins Rennen schicken. Doch das lehnte McCarthy vor der Sitzung ab: "Ich bleibe, bis wir siegen!", verkündete er. (Karl Doemens aus Washington, 4.1.2023)