Die Bestände des Schwarzkehlchens sind in Österreich um 72 Prozent geschrumpft. Eine neue Initiative will dieser Entwicklung entgegenwirken.
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Wann haben Sie das letzte Mal Ihre Windschutzscheibe nach einer längeren Fahrt ernsthaft von Insekten reinigen müssen? Wenn Sie unter vierzig Jahre alt sind, wahrscheinlich nie. Tatsächlich leidet die größte Tiergruppe der Welt unter massiven Bestandseinbrüchen. Eine saubere Windschutzscheibe ist natürlich angenehm, aber stellen Sie sich vor, Sie bräuchten diese Insekten als Nahrung für sich oder Ihre Kinder. Das würde deren Rückgang gleich in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Viele Vogelarten haben genau dieses Problem: Sie ernähren sich entweder selbst ihr ganzes Leben lang von Insekten oder benötigen diese zumindest für die Jungenaufzucht. Auch viele Vögel, die als Erwachsene Samen und Körner fressen, füttern ihren Nachwuchs mit Raupen, Heuschrecken, aber auch Spinnen (zur Klasse der Spinnentiere zählend), weil die leichter verdaulich sind. Je weniger es davon gibt, desto weniger Junge können die Vögel aufziehen.

Die Bestände heimischer Vogelarten in bewohnten Gebieten stehen auch im Mittelpunkt der größten Vogelzählung Österreichs. Bei der 14. Auflage des Citizen-Science-Projekts "Die Stunde der Wintervögel" sind Interessierte vom 6. bis zum 8. Jänner 2023 aufgerufen, eine Stunde lang die Vögel in der unmittelbaren Umgebung zu zählen und ihre Beobachtungen auf der Projektseite zu melden.

Raupen gehören zum Menü vieler Jungvögel. Verschwinden sie, trifft das auch den Nachwuchs in etlichen Nestern schwer.
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Goldene Mitte auf Feld und Wiese

Vogelarten, die während der Brutzeit auf landwirtschaftlich genutzte Flächen angewiesen sind, haben in den letzten Jahren einen massiven Rückgang verzeichnet: Laut "Farmland Bird Index" der EU sind die Populationen der 22 häufigsten Feld- und Wiesen-Arten zwischen 1998 und 2014 um 42 Prozent geschrumpft. Überwiegend verursachen das zwei unterschiedliche Entwicklungen in der Landwirtschaft, wie Vogel-Experte Hans-Martin Berg vom Naturhistorischen Museum (NHM) Wien erklärt: einerseits die Intensivierung der Landwirtschaft, andererseits die völlige Aufgabe der landwirtschaftlichen Nutzung von wenig ertragreichen Flächen.

Intensive Bewirtschaftung bedeutet unter anderem einen erhöhten Einsatz von Pestiziden, die nicht nur Schädlinge vernichten, sondern alle Insekten beeinträchtigen. Grünland wird außerdem häufiger gemäht, was sowohl Gelege zerstört als auch das Aufkommen einer Vielfalt an Blütenpflanzen verhindert. Da deren Nektar Nahrungsgrundlage vieler Insekten ist, finden die Tiere infolge häufig nicht genug Futter – ebenso wie die von ihnen abhängigen Vögel. Doch auch das Gegenteil schafft den Wiesen- und Feldvögeln Probleme: Sie suchen Heuschrecken und andere Insekten nämlich auf offenen, relativ kurzrasigen Flächen.

Der Verlust von Futterpflanzen und Lebensräumen setzt Insekten wie der Heuschrecke zu. In weiterer Folge fehlen die Insekten auch auf dem Speiseplan von Vögeln.
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Wichtig für Jungenaufzucht

Wiesen, die nicht mehr bewirtschaftet und daher gar nicht mehr gemäht werden, verfilzen und werden bald von Gehölzen besiedelt. In deren Schatten können die wärmeliebenden Pflanzen des Offenlandes genauso wenig gedeihen wie die von ihnen lebenden Insekten. Im Gefolge finden die Wiesenvögel auch auf diesen Arealen häufig zu wenig Nahrung für eine erfolgreiche Jungenaufzucht.

Optimal für diese Vogelarten ist extensiv bewirtschaftetes Grünland, also Flächen, die nur ein- oder zweimal pro Jahr gemäht werden, doch diese werden seit Jahrzehnten immer weniger – mit entsprechenden Folgen für die Artenvielfalt.

Nahrungskette und Artenreichtum

Die Rolle von Insekten entlang der Nahrungskette und ihre Bedeutung für die Biodiversität beschreibt auch der britische Biologe Dave Goulson in seinem Buch "Stumme Erde. Warum wir die Insekten retten müssen". Das Plädoyer für den Schutz der Insekten findet sich auch auf der Shortlist des Österreichischen Wissenschaftsbuchs des Jahres 2023 des Wissenschaftsministeriums.

Der Professor der University of Sussex zeigt auf, dass nicht nur Vogelarten, die Grashüpfer, Raupen oder Käfer direkt verspeisen, von deren Existenz abhängen. "Auch Top-Prädatoren wie Sperber, Reiher und Fischadler würden ohne Insekten verhungern, da ihre Beute aus insektenfressenden Staren, Fröschen, Spitzmäusen oder jungen Lachsen besteht", schreibt Goulson.

Ein starker – oder nicht umkehrbarer – Rückgang der krabbelnden und fliegenden Tierchen würde die generelle biologische Vielfalt erheblich schmälern, warnt er. Eine Entwicklung, die sich auch hierzulande in Abstufungen äußert.

Fünffache Verbesserung

Die Bestände der typischen Offenlandbewohner Schwarz- und Braunkehlchen, die vor allem Käfer und Heuschrecken fressen, sind in den letzten 25 Jahren laut Erhebungen von BirdLife Österreich massiv zurückgegangen: beim Braunkehlchen um 63 und beim Schwarzkehlchen um 72 Prozent. Auch die Heidelerche gilt in Niederösterreich, wo 70 Prozent des österreichischen Bestandes brüten, als stark gefährdet, um nur einige wenige Beispiele aus der heimischen Vogelwelt zu nennen.

Neben Insekten sind Spinnentiere wichtig für die Versorgung von Vögeln und ihren Jungen. Menschen mit Spinnenphobie mögen sich über verlassene Netze freuen, für manche Vogelarten bedeutet das Verschwinden der Tiere jedoch ein geringeres Nahrungsangebot.
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Um den Insekten, von denen sich diese und viele andere Vögel ernähren, wieder mehr Lebensraum zu verschaffen, führte das NHM Wien gemeinsam mit BirdLife Österreich in den vergangenen zwei Jahren Pflegemaßnahmen auf fünf Naturschutzflächen in Österreich durch.

Auf den ausgewählten Flächen wurden die Lebensbedingungen für Insekten und Vögel deutlich verbessert. Das Projekt fand im Rahmen der Biodiversitäts-Initiative VielfaltLeben des Klimaschutzministeriums statt und wurde vom Landwirtschaftsministerium und der EU finanziell unterstützt.

Vom Blauen Berg bis zum Moor

Bearbeitet wurden der Blaue Berg bei Oberschoderlee (NÖ), das Ibmer Moor (OÖ), der steirische und der Kärntner Teil des Hörfeld-Moors sowie Streuwiesen im Ehrwalder Becken in Tirol.

Das oberösterreichische Ibmer Moor gehört zu einer von fünf Naturschutzflächen, auf denen im Rahmen der Biodiversitäts-Initiative VielfaltLeben besondere Pflegemaßnahmen ergriffen wurden.
Foto: NATURSCHAUSPIEL/OÖ Tourismus/Robert Maybach

Als Naturschutzgebiete litten die fünf Flächen freilich nicht an intensiver Bewirtschaftung, wohl aber am Gegenteil. Auf den ehemals offenen Arealen hatten sich in den letzten Jahren Büsche, teilweise sogar Bäume angesiedelt und die Landschaft für viele Wieseninsekten und -vögel unattraktiv werden lassen. Im Zuge des Projekts wurden Sträucher und junge Bäume entfernt und das dabei anfallende Material weggebracht.

Letzteres gestaltete sich generell herausfordernd, aber nirgends so sehr wie im Ehrwalder Becken in Tirol: Extrem nasse Wiesen und von Gräben durchsetztes unwegsames Gelände bewegte die Naturschützer letztendlich, den Gehölzschnitt mittels Hubschraubers abtransportieren zu lassen.

Schnelle Rückkehr durch Pflege

Der Helikopter erledigte die Arbeit, die sonst mehrere Tage in Anspruch genommen hätte, in vier Stunden – und zerstörte keine wertvolle Vegetation. Obwohl die Pflegemaßnahmen erst im vergangenen Winter stattfanden, zeitigten sie schon erste Erfolge.

Das seltene Braunkehlchen findet dank der Initiative von Naturhistorischem Museum Wien und BirdLife Österreich wieder mehr geeignete Habitate vor.
Foto: Michael Dvorak

Nur wenige Wochen nach dem Entbuschen des Blauen Berges sang dort bereits die seit Jahren erste Heidelerche. Ebenso wurden im Ehrwalder Becken vergangenes Frühjahr zwei Reviere des in den letzten 25 Jahren stark rückläufigen Wiesenpiepers festgestellt.

In allen fünf Gebieten steht dank der Maßnahmen wieder geeigneter Lebensraum für Schwarz- und Braunkehlchen zur Verfügung. Am NHM Wien läuft noch bis zum Frühjahr eine kleine Sonderschau mit dem Titel "Das große Fressen ... ist vorbei?". Dabei werden verschiedene Insekten-fressende Vögel ebenso vorgestellt wie ihre Menüpläne, von denen viele mit dem Hinweis "Leider aus" versehen sind. (Susanne Strnadl, 7.1.2023)