Der tschechische Außenminister Jan Lipavský will weiterhin an der Seite der Ukraine stehen.

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Russlands Krieg gegen die Ukraine drückt ganz Europa seinen Stempel auf. Besonders stark bekam das in den vergangenen sechs Monaten die Regierung in Prag zu spüren: Der Ratsvorsitz in der Europäischen Union erforderte viel politische Energie – und die Bereitschaft, einmal gefasste Pläne auch wieder zu verwerfen.

STANDARD: Zu Jahresbeginn hat Tschechien die EU-Ratspräsidentschaft an Schweden übergeben. Welche Bilanz ziehen Sie nach den vergangenen sechs Monaten unter tschechischem Vorsitz?

Lipavský: Als am 24. Februar der russische Angriff auf die Ukraine begann, hat das unsere Vorbereitungen komplett über den Haufen geworfen. Die Invasion und ihre Folgen standen dann natürlich im Zentrum unseres Vorsitzes – in der Energiepolitik ebenso wie im Bereich der humanitären, militärischen und wirtschaftlichen Hilfe für die Ukraine. Das Vorsitzland soll die EU durch die verschiedenen Interessen der Mitgliedsstaaten navigieren. Aber natürlich haben wir auch versucht, eigene Akzente zu setzen, etwa beim Erweiterungsprozess auf dem sicherheitspolitisch so wichtigen Westbalkan, dem Kandidatenstatus für Bosnien-Herzegowina. Ich glaube, das wurde sehr positiv aufgenommen. Auch um die Erweiterung des Schengen-Raums haben wir uns bemüht. Leider gelang uns das nur im Fall Kroatiens, nachdem Österreich sich im letzten Moment gegen den Beitritt Rumäniens gestellt hatte.

STANDARD: Wie haben Sie diese Entscheidung wahrgenommen?

Lipavský: Der Schritt kam aus meiner Sicht ziemlich plötzlich, Österreich hatte vorher dazu ganz andere Signale ausgesendet. Es ist aber nicht meine Aufgabe, die österreichische Politik zu bewerten beziehungsweise die Überlegungen, die zu dieser Entscheidung geführt haben. Trotzdem glaube ich, dass ein Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens – oder zumindest eine realistische Perspektive für einen schnellen Beitritt – sogar zu mehr Sicherheit führen würde, zu einer besseren Anwendung der gemeinsamen Regeln in diesen Ländern.

STANDARD: Wie gut ist es gelungen, die Einheit in der EU zu bewahren?

Lipavský: Ich habe mir am 1. Jänner das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker angesehen. Im Unterschied zu diesen ist die EU kein perfekt eingespieltes Orchester. Sie ist ein Projekt, das unterschiedliche Interessen in Einklang bringen muss. Daran muss man intensiv arbeiten, und das, worauf man sich einigt, formt dann die Einheit. Wenn man auf die insgesamt neun Sanktionspakete gegen Russland blickt, auf die Ausbildungsmission für ukrainische Soldaten oder auf die finanzielle Hilfe, die wichtig war, damit der ukrainische Staat nicht kollabiert, dann muss ich sagen: Die Einheit ist wirklich stark.

STANDARD: Ungarn hat den 18 Milliarden Euro für die Ukraine nur zugestimmt, weil gleichzeitig der Kommissionsvorschlag zur Kürzung der EU-Mittel für Budapest abgemindert wurde. War das wirklich ein "Megadeal", wie Prag verkündete? Oder war es eine Erpressung durch Ungarn?

Lipavský: Ich bin froh, dass diese Frage gelöst werden konnte. Die Rolle des Ratsvorsitzes ist es eben, unterschiedliche Interessen wahrzunehmen und Vorschläge zu machen, die sich manchmal von den Vorschlägen anderer Institutionen unterscheiden, aber die Dinge politisch vorantreiben. Ich glaube, es wird anerkannt, dass wir hier konstruktive Arbeit geleistet haben.

STANDARD: Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Polen bilden die Visegrád-Gruppe (V4). Im Unterschied zu Ungarn tritt aber gerade Polen derzeit besonders Russland-kritisch auf. Wie sehr schwächt das die V4?

Lipavský: Die Visegrád-Gruppe gibt es seit über 30 Jahren, und ich gehe davon aus, dass es sie auch weiterhin geben wird. Aber die unterschiedlichen Akzente bezüglich der russischen Invasion in die Ukraine machen die Zusammenarbeit natürlich nicht gerade einfacher.

STANDARD: Wächst umgekehrt die Bedeutung des sogenannten Austerlitz-Formats, bestehend aus Tschechien, der Slowakei und Österreich?

Lipavský: Die drei Länder sind sich sehr nahe. Wir leben in einer gemeinsamen Region, und es ist nur natürlich, dass wir auch in der Außenpolitik an einem Strang ziehen. Ich war mit meinen Amtskollegen aus Österreich und der Slowakei gemeinsam in der Ukraine und in der Republik Moldau, und erst am Montag haben wir in Wien gemeinsam den indischen Außenminister getroffen. Natürlich haben wir nicht zu allen Fragen dieselbe Meinung, aber das ist auch nicht nötig. Wir verstehen einander, und wir überraschen einander nicht.

STANDARD: In Prag gab es jüngst große Demonstrationen. Zehntausende drückten ihre Unterstützung für die Ukraine aus, ebenso viele zeigten ihre Sympathie für Russland und forderten ein Ende der Sanktionen. Wie sehen Sie die Stimmung in der Bevölkerung?

Lipavský: Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Kriegs sind in ganz Mitteleuropa spürbar. Tschechien hat zudem fast einer halben Million Menschen aus der Ukraine vorübergehenden Schutz gewährt, das ist gemessen an der Bevölkerungszahl Platz eins in Europa. Niemand will unschuldige Menschen in der Ukraine leiden sehen. Aber diverse Ängste und die hohen Energiepreise führen dazu, dass manche Menschen antiukrainische Gefühle entwickeln. Ich glaube aber, die meisten sind sich dessen bewusst, dass wir die europäische Sicherheit verteidigen müssen, dass Russland seine imperialistischen Pläne fortsetzt, wenn es in der Ukraine nicht gestoppt wird. (Gerald Schubert, 5.1.2023)