Der begehrte Sitz des Speakers ist leer, das US-Parlament beschlussunfähig. Wie lange das so bleibt, ist offen.

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Ein neuer Sprecher des US-Repräsentantenhauses wird noch gesucht, Metaphern für den Zustand der Kammer sind hingegen schon viele gefunden: ein Parlament wie im Höllenkreis von Dantes Inferno, eine Kammer wie im Film "Groundhog Day" ("Und täglich grüßt das Murmeltier"), Schrödingers Kongress, der abhängig vom Standpunkt zugleich existiert und nicht existiert. Dass die zahlenmäßig größere Kammer des US-Parlaments derzeit vergeblich auf ihre eigene Konstituierung wartet, sorgt in den USA für existenzielle Fragen: Das Repräsentantenhaus sei im aktuellen Zustand "im Grunde nutzlos", schreibt die "New York Times", während die "Washington Post" infrage stellt, ob die Kammer aktuell überhaupt existiert.

Grund der Überlegungen: Die Wahl eines Sprechers des Repräsentantenhauses ist sowohl in der Verfassung als auch in der parlamentarischen Tradition der USA der allererste Punkt im Kalender. Solange er nicht abgearbeitet ist, kann die Kammer ihre Arbeit nicht aufnehmen. Das hat einen einfachen Grund: Während der Senat bei jeder Midterm-Wahl nur zu einem Drittel neu gewählt wird und ansonsten kontinuierlich weiterarbeitet, werden im Repräsentantenhaus alle zwei Jahre sämtliche Sitze neu besetzt.

Die Angelobung der Abgeordneten aber ist erst Punkt zwei auf der Tagesordnung – nach der Wahl eines Sprechers oder einer Sprecherin, der oder die diese Angelobung dann durchführen muss. Bis dahin ist der Status der Abgeordneten unklar. Und es gibt auch niemanden, der eine Tagesordnung der Kammer erstellen könnte.

"Im Notfall könnten wir nicht reagieren"

Das sorgt nicht nur im Repräsentantenhaus für Bedenken. Denn die allermeisten parlamentarischen Aufgaben werden in den USA von beiden Kammern gemeinsam erledigt: Neuen Gesetzen müssen Repräsentantenhaus und Senat zustimmen, damit sie dem Präsidenten zur Unterschrift vorgelegt werden können. Wenn also der Senat auch weiterhin normal funktionieren mag: Ohne ansprechbares Repräsentantenhaus kann er viele Aufhaben nicht erledigen.

Das mag für einige Tage, so wie jetzt, kein großes Problem sein – es gibt immerhin eine funktionierende Regierung, und auch im sonstigen politischen Alltag gibt es oft genug Parlamentspausen und -urlaube, die das System durchstehen kann. Was aber, sollte plötzlich eine Krise auftreten, für die man, etwa während der Sommerpause, ansonsten das Parlament zusammenrufen würde? Das ist offen. "Wenn es einen echten Notfall gäbe, könnten wir derzeit nicht reagieren", sagte Jerrold Nadler, einer der erfahrensten und höchstrangigen Demokraten im Repräsentantenhaus, recht unverblümt der "New York Times".

Kein Geld, keine Informationen

Aber auch ganz ohne Notfall hat die Situation bereits Folgen: Menschen, die formell nicht angelobt und daher keine Abgeordneten sind, gehen jeden Tag durch die Schranken des Kongresses, auf denen steht, dass nur Mandatare sie passieren dürfen. Sie erhalten, weil nicht angelobt, derzeit auch keine Abgeordnetengehälter, mit denen sie ihre beträchtlichen Mitarbeiterstäbe finanzieren können.

Und vor allem: Ohne Angelobung erhalten sie auch keine Sicherheitsinformationen von der Regierung, die Mandataren vorbehalten sind. Das mag trivial klingen, aber: Immerhin ist die Position der Parlamentssprecherin oder des -sprechers die dritthöchste in den USA. Sollten Präsident Joe Biden und seine Vizepräsidentin Kamala Harris ausfallen, muss diese Person fähig sein, die Rolle zu übernehmen. Aktuell wäre das, weil es keinen Speaker gibt, nicht möglich. (Dritte in der Rangfolge ist vorerst die Präsidentin pro tempore des Senats, die Demokratin Patty Murray.) Zahlreiche Parlamentskomitees sind zudem für Fragen von Verteidigung und Geheimdiensten zuständig. Auch ihre Mitglieder sollten eigentlich auf dem aktuellen Stand bleiben.

Zwei Monate, 133 Abstimmungen

Wie sind also die Aussichten, dass sich all das bald ändert? Schaut man in die Geschichte, findet man wenige Beispiele. In den vergangenen hundert Jahren war die Wahl der Sprecherin oder Sprechers meist ein Formalakt, der in Kürze erledigt war. Zuletzt dauerte es 1923 drei Tage und neun Wahlgänge lang, bis der Posten schließlich mit dem Republikaner Frederick Gillett besetzt war.

Die bisher längste Wahl eines Sprechers trug sich im Umfeld des Bürgerkriegs und der Sklaverei 1856 zu. Damals dauerte es zwei Monate und 133 Abstimmungen lang, bis das Repräsentantenhaus sich auf einen Vorsitzenden einigen konnte. Ein Limit für die Zeit oder die Wahlgänge gibt es nicht – beides ist einzig durch die Notwendigkeit begrenzt, in zwei Jahren alle Mandate wieder neu durch Wahlen zu vergeben.

Damit freilich rechnet vorerst niemand. Wie die aktuelle Situation sich aber auflösen soll, ist auch offen. Ob eine Alternative zu Kevin McCarthy, dem nun sechsmal an der eigenen Fraktion gescheiterten republikanischen Kandidaten, mehr Chancen auf eine Wahl hätte, ist ziemlich fraglich. Er selbst hat laut US-Medienberichten weitere Zugeständnisse an den rechten Flügel seiner Partei in Aussicht gestellt, um doch noch dessen Zustimmung zu erlangen. Demnach würde er, sollte er doch noch gewählt werden, mehr Ausschussposten mit Vertretern der extremen Rechten besetzen.

Außerdem will der Kalifornier die internen Parlamentsregeln ändern. Künftig soll schon der Antrag eines oder einer einzelnen Abgeordneten ausreichen, um ein Misstrauensvotum gegen den Speaker in Gang zu setzen. Es könnte also sein, dass McCarthy nun doch noch gewählt wird – nur um in einigen Monaten wieder abgesetzt zu werden. Dann wäre es wieder Groundhog Day. (Manuel Escher, 5.1.2023)